Die Macht der Taliban in Afghanistan: Ein schneller Deal mit den USA wäre fatal
Frauenrechte kommen in den US-Taliban-Verhandlungen nicht vor. Die Männer halten an der „Gebieter“-Rolle fest. Ein Gastbeitrag.
Die Autorin begleitet den Wiederaufbau Afghanistans seit 2002 als Gutachterin und Beraterin für deutsche und internationale Entwicklungsinstitutionen.
Obwohl seit Juli 2018 Friedensverhandlungen zwischen Vertretern der Taliban und Vertretern der US-Regierung laufen, geht das Töten in Afghanistan weiter. Die Taliban starteten wie in jedem Jahr ihre Frühjahrsoffensive. Regierungsfreundliche Truppen verursachen durch Luftangriffe ebenfalls viele zivile Opfer. Nach Zeichen des guten Willens, die verfeindete Verhandlungspartner gewöhnlich während laufender Verhandlungen zeigen, um die Ernsthaftigkeit ihrer Bemühungen zu unterstreichen, sucht man vergebens.
Ziel der Gespräche zwischen den Taliban und der US-Regierung ist der Rückzug aller westlichen Truppen im Austausch für Garantien, dass Afghanistan kein Ausgangsort für Terrorismus ist. Damit hätte der amerikanische Präsident wieder einmal einen Deal gemacht. Nur was bedeutet dieser Deal für die Bevölkerung Afghanistans? Mit diesem Verhandlungsformat wird vor allem die Macht der Taliban gesichert, nicht aber der Frieden. Eine Lösung für die Probleme Afghanistans ist das nicht.
Gegen einen solchen sich abzeichnenden Deal machen jetzt die afghanischen Frauen mobil. Sie sammeln seit Monaten Unterschriften in Afghanistan und in der Diaspora. Frauen wurden wie die afghanische Regierung bis zur siebten Verhandlungsrunde Anfang Juli gar nicht erst eingeladen. Das fordern sie nun, um ihre in der Verfassung gesicherten Rechte zu verteidigen. Einen ersten kleinen Erfolg haben sie während des von Deutschland und Katar organisierten Treffens zu einem innerafghanischen Dialog Anfang Juli erzielt, der parallel zu den USA-Taliban-Verhandlungen organisiert wurde.
Es war das erste direkte Gespräch zwischen militanten Islamisten und einer afghanischen Delegation aus Vertretern der Zivilgesellschaft, der afghanischen Regierung, einschließlich Frauen. Dieser innerafghanische Dialog soll in formelle Friedensverhandlungen zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung münden, um den Krieg zu beenden.
Es läuft ein Stellvertreterkrieg
In der Abschlusserklärung des ersten innerafghanischen Dialogs Anfang Juli 2019 betonten beide Seiten, die zivilen Opfer des Krieges „auf Null“ reduzieren zu wollen. Dazu soll die Sicherheit öffentlicher Einrichtungen wie Schulen, Koranschulen, Krankenhäuser und Märkte verbessert werden. Doch was ist von solchen Abschlusserklärungen zu halten, wenn am 19. Juli vor der Universität in Kabul sich wieder ein Attentäter in die Luft sprengt? Vorsorglich hatten Beteiligte des innerafghanischen Dialogs diese Abschlusserklärung bereits als Absichtserklärung deklariert.
Selbst zu Beginn des innerafghanischen Dialogs wurden durch eine Autobombe in Ghazni in Zentralafghanistan 14 Menschen getötet und 180 verletzt, vor allem Schulkinder. Die Taliban, die zur Zeit fast 50 Prozent des afghanischen Territoriums kontrollieren, beklagen ihrerseits Opfer von Angriffen der USA und der Regierungstruppen.
In Afghanistan läuft seit Jahren ein Stellvertreterkrieg, an dem sich die verschiedenen afghanischen Fraktionen sowie die Regionalmächte Pakistan, Iran, Indien, Russland und China in unterschiedlicher Weise beteiligen. Es geht also eher um die Verteilung von Macht als um Frieden. Die Leidtragenden sind die Afghanen und Afghaninnen.
Während die Rechte der Frauen in den sieben Verhandlungen zwischen den Taliban und den Vertretern der US-Regierung gar nicht zur Sprache kamen, wurden sie in der Abschlusserklärung des innerafghanischen Dialogs erwähnt. Sie sollen in politischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Angelegenheiten sowie in Fragen der Erziehung im „Rahmen islamischer Grundsätze und islamischer Werte“ gewährleistet werden.
Wer aber interpretiert den Islam, wer ist dafür zuständig, wer hat das Recht dazu und wer achtet auf die Einhaltung der zugesicherten Rechte? Solange die Taliban hierfür den Alleinanspruch erheben sind große Zweifel angebracht. Einigen Taliban schwebt weiterhin die Wiedererrichtung des Islamischen Emirats Afghanistan vor, das würde aber die Rechte der Frauen, die sie in den vergangenen 18 Jahren in Afghanistan per Verfassung zugesichert bekamen, wieder rückgängig machen.
Ein schneller Deal wäre fatal
Man wird sich auf einen langen Dialogprozess einstellen müssen und gleichzeitig hoffen, dass die „deal makers“ nicht den soeben begonnenen seriöseren innerafghanischen Dialog unterlaufen beziehungsweise überholen. Ein schneller Deal zwischen der US-Regierung und den Taliban wäre fatal.
Fraglich ist bisher auch das zukünftige Verhalten der bisherigen Kriegsprofiteure. Sind die innerafghanischen Akteure und Profiteure bereit, auf die Kriegsgewinne zu verzichten? Dazu gehört der Drogenhandel, an dem Taliban sowie Regierungsmitglieder beteiligt sind. Haben die politischen Verhandlungsführer der Taliban genügend Kontrolle über ihre militärischen Führer im Land? Denn es sind gerade die Kommandeure, die vom Kriegsgeschäft profitieren.
Einige der politischen Verhandlungsführer auf Seiten der Taliban haben nie oder schon lange nicht mehr gekämpft, waren in Pakistan im Exil. Die Taliban sind keine homogene Gruppe, sie können grob in elf Fraktionen unterteilt werden, die ihre Unterschiede in Stammeszugehörigkeit, ideologischer und politischer Ausrichtung sowie militärischer Kampferfahrung haben.
Bislang hatten die militärischen Anschläge, die vor, während und nach den unterschiedlichen Verhandlungen liefen, nie Konsequenzen für die Verhandlungen. Es werden dringend rote Linien benötigt, die denjenigen Grenzen aufzeigen, die sich bislang nicht an Verhandlungsergebnisse halten und nur ihren persönlichen Vorteil sehen.
Russland hat Angst
Und was ist mit den Rechten der religiösen und ethnischen Minderheiten in Afghanistan? Geredet werden muss darüber, wer die Ergebnisse des innerafghanischen Dialogs sichern soll. Ganz ohne internationale Präsenz und nur mit guten Worten sind die tiefen Gräben nicht zu überwinden, die der 40-jährige Krieg seit 1979 gerissen hat. Die gesamte Region mit ihren regionalen Akteuren ist extrem fragil. Der Westen hat die zentralasiatischen Staaten nach den Anschlägen vom 11. September 2001 als Nachschubbasen für Afghanistan gesehen und damit die autoritären Regime in den zentralasiatischen Staaten zementiert. Russland hat Angst, dass eine weitere Islamisierung über die zentralasiatischen Staaten auf sein Staatgebiet übergreifen könnte.
Um Frieden zu sichern, müssen außenpolitische und entwicklungspolitische Strategien die gesamte Region, alle regionale Akteure berücksichtigen. Die prekäre soziale Situation der Bevölkerung ist die größte Bedrohung der politischen Stabilität. In Kriegszeiten und Zeiten des wirtschaftlichen und politischen Umbruchs sucht die Bevölkerung nach Leitplanken, die die Richtung weisen. So konnte sich der islamische/islamistische Einfluss in der Region verstärken. In solchen Zeiten klammern sich die Männer an ihre „Gebieter“-Rolle, die sie sich in der patriarchalischen Umgebung selbst zuerkannt haben.
Hannelore Börgel