"Islamischer Staat" im Irak und Syrien: Ein Sammelbecken der Verlierer
Sie verbreiten Terror in Syrien und im Irak: Die Dschihadisten vom "Islamischen Staat" sind oft Verlierer unserer Gesellschaften - aber im Internet stellen sie sich als gnadenlose Kämpfer dar.
Der Panzer dreht sich auf dem Asphalt, hinterlässt Kettenspuren auf dem Boden und pustet einen zähen Dieselrauch in den Himmel von Rakka in Zentralsyrien. In der von Anführern des "Islamischen Staates" ernannten Hauptstadt des "Kalifats" können die Dschihadisten so richtig aufdrehen. Drei johlende Männer um die 30 sitzen auf der Fahrerkabine und halten den Zeigefinger in die Luft: Die Geste des Glaubensbekenntnisses wird zum Zeichen des Sieges im heiligen Krieg umgedeutet.
Die Kämpfer blicken voller Stolz und mit Tränen in den Augen auf ihre im dicken Ruß wehende schwarze Fahne. In weißen Lettern steht der Kern ihrer Ideologie für jeden gut lesbar auf dem pechschwarzen Grund: "Es gibt nur einen Gott, und Mohammed ist sein Prophet". Absolute Deutungshoheit, hochstilisiert zur einzig gültigen Wahrheit und religiös aufgeladen bis zum Gehtnichtmehr, das ist der erste von drei Eckpfeilern in der Philosophie der Extremisten.
Doch wer sind diese Männer, deren Gewalt die ganze Welt schockiert? Wer terrorisiert da hunderttausende Menschen an Euphrat und Tigris? Und wie schaffen sie es, so viele für ihren Kampf zu rekrutieren?
Terror, in Szene gesetzt
Einem Reporter vom Onlinemagazin "Vice News" gelang es, ganz nah an die Dschihadisten heranzukommen. Medyan Dairieh durfte sich quasi anschmiegen an die Männer, über die sich das Weiße Haus, der Elysée-Palast und das Kanzleramt den Kopf zerbrechen, die im Nahen Osten einen endlosen Krieg weiter befeuern.
Mit dem offiziellen Kalifatssprecher spaziert die Kamera also durch die "befreiten, islamischen Territorien" zwischen dem Irak und dem syrischen Bürgerkriegsgebiet. Der Zuschauer kann sehen, wie Terroristen im Euphrat planschen, wie sie Freudentänzchen aufführen oder für die Kinder Clown spielen. Eine Szene zeigt die nette Sittenpolizei, wie sie höflich, mit Gewehr im Anschlag die Bewohner von Rakka auf die einzig korrekte Lebensweise der Scharia hinweist: Frauen müssen komplett verschleiert sein, Ladenbesitzer müssen faire Preise anbieten, Kinder brav den Koran auswendig lernen.
Ein Elfjähriger spult danach die auswendig gelernte IS-Propaganda ab - während hinter der Kamera neben dem Vice-Reporter ein IS-Mann steht. Als der Junge kurz stottert, nach Worten sucht, bekommt er einen Tipp zugerufen: "Kalifat!" Der zweite Schlüsselbegriff im Wahnsinn der Kämpfer: Gott ist alles und Gott will das Kalifat. Samt Kalifen, willkürlichen Koraninterpretationen und Kalaschnikow. Denn um die Trias der Terroristen zu vollenden, braucht es vor allem eins: Gewalt.
Wie die IS mit kruder Gewalt die Welt verbessern möchten, kann man in einem improvisierten Gefängnis beobachten. Als dort gefangene "Straftäter" vor die Kamera geführt werden, wird die Dokumentation endgültig zum Propaganda-Mittel, wie sie jeder PR-Berater nicht besser hinbekommen würde.
Alkoholiker und Drogenabhängige sitzen auf dem dreckigen Boden, einige von ihnen erwartet die Todesstrafe, andere bekommen Peitschenhiebe, weil sie auf der Straße fluchten oder einen Autostau verursacht haben. Die Männer schauen in die Kamera und beteuern, dass sie hier zu besseren Menschen umerzogen werden. Alle seien sie nun gute Muslime: "Danke IS!", sagt einer.
(Visa-)Freiheit für alle Muslime
Gott, Kalifat und Gewalt. Von dieser Formel soll auch jeder Kämpfer für und jeder Bürger im "Islamischen Staat" etwas haben. Das Heilsversprechenspaket beinhaltet klare Regeln, garantierte Sicherheit und ein gutes Leben für alle Muslime.
Das erklärt vielleicht auch, warum die IS-Miliz bei fanatischen Islamisten aus Europa und den USA so beliebt ist. Ein zentraler Satz taucht in vielen Propagandavideos und Texten der IS immer wieder auf: "Wir werden die ungläubigen Nachfahren vom Sykes-Picot-Abkommen schlachten". Damit ist der Westen gemeint, aber auch seine Verbündeten im Nahen Osten: die irakische Regierung, die kurdischen Kämpfer, das saudische Königshaus, das ägyptische Militär, Katar und viele andere.
Der nach dem französischen Diplomaten François Georges-Picot und seinem britischen Verhandlungspartner Mark Sykes ausgearbeitete Vertrag teilte im Jahr 1916 den Nahen Osten unter den europäischen Besatzungsmächten auf und war die Blaupause für die Grenzen der bekannten Staatsgebilde. Auch deswegen überdachten die Dschihadisten ihre Eigenbezeichnung und nannten sich von "Islamischer Staat im Irak und in Syrien" (ISIS) in "Islamischer Staat" um. Das hat einen universellen Charakter.
Ein Glaubenssatz der Propaganda, das jeder IS-Kämpfer neben den "Allahu Akbar"-Rufen stets auf der Zunge liegen hat, lautet dementsprechend: "Der Islamische Staat begrüßt alle wahren Muslime, ohne Visum, ohne Pass, ohne Grenzen, im Namen Gottes".
Ein Haufen Männer ohne Perspektive
Auf Facebook und Twitter, auf Videoplattformen wie Youtube oder Liveleak präsentieren die IS-Kämpfer ihre (Kriegs-)Verbrechen, ihren Terror. Dort fliegen abgehackte Köpfe durch die Luft, Menschen werden lebendig begraben, Genickschüsse im Sekundentakt abgefeuert. Wer sind die Mörder?
Ein Kämpfer erzählt in der Dokumentation, dass er aus Belgien komme. Er habe alles hinter sich gelassen und kämpfe nun im Irak für die IS. "Wir werden euch töten, wie ihr uns getötet habt. Wir werden eure Kinder zu Waisen machen, wie ihr unsere Kinder zu Waisen gemacht habt", sagt er. Er werde auch die Frauen der Ungläubigen vergewaltigen, so wie auch die muslimischen Frauen vergewaltigt wurden. Dann bricht er in Tränen aus.
Auf Facebook werden kleine Biografien geteilt. So zum Beispiel der "Märtyrer Osama", er soll in den USA studiert haben, hatte dann aber genug von der "Feindschaft dort gegen ihn persönlich, gegen seinen Islam". Er habe gut gekämpft, viele ungläubige Kurden und Schiiten getötet, bevor er in das "Paradies aufgestiegen" sei.
Die IS-Kämpfer scheinen oft Verlierer unserer Gesellschaften zu sein. Einige haben Sprachfehler und wurden gehänselt, andere haben eine schwierige Familiengeschichte durchlebt oder sind generell im Leben gescheitert. Es stellt sich die Frage, welche Gewalt diese Männer erfahren haben, um ihre Männlichkeit auf eine solch primitive Weise unter Beweis zu stellen.