50 Jahre Studentenrevolte 1968: Ein Frühling im Winter
Der Geist von ’68 wehte nicht nur in Paris, Frankfurt, West-Berlin. Auch in der DDR lag er in der Luft. Und selbst ohne große Revolte hatte das dort auf lange Sicht Folgen.
Ein halbes Jahrhundert ist es her, das aufrührerische Jahr 1968. Die Erinnerung an Studentenrevolte, Spaß-Guerilla und politische Umbrüche wird sich durch das Jubiläumsjahr ziehen. Aber welche Erinnerung kramen wir hervor? Die Erinnerung derer, die es erlebt haben, als Aufbegehrende oder Obrigkeiten? Oder die eingeübte Erzählung von Jubiläumsjahren? Für mich ist der Erinnerungsmoment 1968 eine gute Gelegenheit, sich Geschichte neu zu erzählen. Als gleichzeitig erlebte Geschichte, in Deutschland, in Europa.
Die 68er? Vor Ihrem geistigen Auge sehen Sie vielleicht Frankfurter, Düsseldorfer oder West-Berliner Studenten. Langhaarige Weltverbesserer. Aufgescheuchte Politiker in Bonn und Paris. Aber was, wenn ich Ihnen sage, die Langhaarigen auf der Suche nach einer besseren Gesellschaft gab es auch in Dresden, Leipzig und Ost-Berlin? Und aufgescheuchte Politiker allemal. Das Jahr 1968 war ein folgenschweres Jahr für alle Deutschen.
Die Bilder aus West-Berlin brannten sich auch im Osten ein
1968 war die Mauer sieben Jahre alt. Ich wurde 15 im Sommer des Jahres und begann meine Suche nach einem politischen Selbstverständnis. Protestierende Studenten, das Infragestellen der vorhandenen Ordnung, das Aufbegehren gegen Grausamkeiten in der Welt; die Sprechchöre, die untergehakten Arme, das Losziehen, weil man von einer Sache überzeugt ist – die Bilder der 68er Bewegung im Westen haben sich in mein Unterbewusstsein gebrannt. Und sie haben sich wunderbar ergänzt durch die Bilder des Prager Frühlings, die wir ebenfalls nur im West-Fernsehen gesehen haben. Ich sah die gleiche Energie, die gleiche Entschlossenheit, das gleiche Aufbegehren gegen eine bestehende Ordnung.
Aber als Heranwachsender war das Jahr 1968 für mich, wie für viele andere, noch deutlicher geprägt von kulturellen Neuerungen. An Klassenabenden hörten wir die Stones und später Led Zeppelin. Und lagen darüber und über unsere langen Haare und Jeansjacken im Clinch mit den Lehrern. Wir unterschieden uns in unserer Wahrnehmung nicht von den Gleichaltrigen in Nürnberg oder Freiburg.
Der Prager Frühling wurde in der DDR als Sieg gefeiert
Doch das Jahr 1968, das wurde uns in den 70er Jahren deutlich, war in der „offiziellen“ DDR durch zwei repressive Ereignisse geprägt: Im April, nur einen Monat nach dem Aufbruch in Prag, ließ die Staatsführung per Volksentscheid über die Verfassung abstimmen und zementierte dabei die führende Rolle der SED im Staat. Landauf, landab war an jeder möglichen Stelle plakatiert „Stimmt mit Ja!“ Und die Menschen demonstrierten … Folgsamkeit. 95 Prozent stimmten mit Ja, wie bei allen Wahlen durch die streng von Partei und auch Stasi kontrollierten Abläufe, die ein Nein unkalkulierbar machten.
Es folgte im August das Niederwalzen des Prager Frühlings, des Versuchs, einen Sozialismus mit „menschlichem Antlitz“ zu gestalten. Das wurde in der DDR propagandistisch als Sieg gefeiert. Stumm schauten wir West-Fernsehen und schwiegen, eine Hoffnung wurde begraben. Etliche 68er der DDR haben ihre Unterstützung des Aufbegehrens in Prag mit Verfolgung und Gefängnis bezahlt. Dass wir mit einer Gruppe Gleichgesinnter in Jena dann doch versuchten, ein selbstbestimmtes Leben zu leben und uns den Vorgaben und Zumutungen der SED zu widersetzen, hat nicht zuletzt mit der Inspiration durch die 68er-Bewegung zu tun. Dabei ging es weniger um Ideologie, die uns oft fremd war, sondern um Strategie und Lebensfreude, um das, was uns verband.
Eine Gesellschaft, die sich nicht in Frage stellt, scheitert
Als ich 1983 aus der DDR rausgeworfen wurde, hatte ich erste politische Kontakte in der Bundesrepublik vor allem zu den gerade in den Bundestag eingezogenen Grünen. Viele, denen ich dabei begegnete, waren durch das Jahr 1968 politisiert worden. 15 Jahre später, im Jahr 1983, hatte sie ihr „Marsch“ dazu geführt, Politik im System zu gestalten. Für mich aber war in jener ersten Bundestagsfraktion noch etwas anderes bemerkenswert. Mit dem tschechischen Dissidenten Milan Horacek ('68 Ost) und dem Frankfurter Sponti Joschka Fischer ('68 West) hatte sich das getrennt erlebte Jahr in neu reflektiertes politisches Handeln umgesetzt.
In der DDR wurde sechs Jahre später die Mauer eingestürzt. Der Revolutionsgeist, den sich viele der Oppositionellen in der DDR bewahrt hatten, ohne durch die Institutionen wandern zu können, paarte sich mit einer jungen, furchtlosen Generation der 89er, die auf die Straße drängte. In einem einzigartigen Moment wurde so die Friedliche Revolution möglich. Die DDR war bald verschwunden. Was bleibt, ist die Erkenntnis, dass eine Gesellschaft, die sich nicht in Frage stellt, scheitern wird, früher oder später.
Der Autor ist Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen
Roland Jahn