Politische Lage in Brasilien: Eile hinter den Kulissen
Das Amtsenthebungsverfahren gegen Präsidentin Rousseff geht im Olympiatrubel fast unter. Interimspräsident Michel Temer würde gerne schnell Nachfolger werden – das Volk würde lieber wählen.
Die Chancen für Brasiliens suspendierte Präsidentin Dilma Rousseff, ins Amt zurückzukehren, sind äußerst gering. Im Schatten der Olympischen Spiele hat der Senat sie angeklagt, gegen ihren Amtseid verstoßen zu haben – der letzte Schritt, um einen formalen Prozess eröffnen zu können. Der Vorwurf lautet: Fiskaltricks. 59 Senatoren stimmten gegen Rousseff, 21 für sie. Rousseff soll 2014 die Staatsbanken angewiesen haben, Sozialprogramme auszuzahlen, obwohl das Geld im Haushalt nicht mehr vorhanden war.
Die Verhandlung wird in der letzten Augustwoche und damit kurz nach den Olympischen Spielen beginnen. Sollten am Ende mindestens 55 der 81 Senatoren meinen, Rousseff sei schuldig, wäre sie abgesetzt und acht Jahre lang nicht mehr wählbar. Darauf deutet das letzte Votum hin. Dann wäre Rousseffs ehemaliger Vize-Präsident Michel Temer neuer Staatschef Brasiliens. Temer hatte auf das Prozessdatum Ende August gedrängt, weil er kurz danach zum G-20-Gipfel nach China reisen will – ohne den Makel, nur Interimspräsident zu sein.
Medien, Wirtschaft und Korruption prägen die politische Lage
Eine andere Interpretation lautet, dass er in Eile ist, weil er die Aussagen eines Kronzeugen im Korruptionsskandal um den Ölkonzern Petrobras fürchtet. Sie könnten seinen Ambitionen schweren Schaden zufügen. Marcelo Odebrecht, der inhaftierte Chef des brasilianischen Baugiganten Odebrecht, hat Temer schwer beschuldigt: Er soll um illegale Spenden für seine Partei der Demokratischen Bewegung (PMDB) gebeten haben. Odebrecht will umgerechnet 2,8 Millionen Euro in bar überbracht haben. Temer hat das Treffen mit Odebrecht bestätigt, sagt aber, dass die Spende legal gewesen sei. Ebenso explosiv ist eine anderes Geständnis Odebrechts: Er sagt, dass er Brasiliens Außenminister José Serra umgerechnet sechs Millionen Euro für dessen Kampagne um die Präsidentschaft 2010 gegeben habe – auch dies illegal.
Doch solche Meldungen gehen derzeit im Nachrichtenstrom zu den Olympischen Spielen unter. Brasiliens mächtigste Medienanstalt, der in Rio ansässige Globo-Konzern, widmet sich fast ausschließlich dem Sport und seinen Begleiterscheinungen: Neymars Knöchel, Tinder im Olympischen Dorf, Brasiliens Handballer schlagen Deutschland und rächen das 1:7 bei der Fußball-WM. Für anderes gibt es kaum Platz. Nicht zufällig hat Globo den Impeachment-Prozess gegen Rousseff durch einseitige und manipulative Berichterstattung mitbetrieben.
Rouseffs potentieller Nachfolger ist in Brasilien unbeliebt
Doch nicht nur die Makel von Korruption und Verrat haften an Temer. Er kann auch kaum als demokratisch legitimiert gelten. Seine Zustimmungsraten lagen im Juli bei 14 Prozent – ähnlich niedrig wie zuletzt die von Rousseff. Die große Mehrheit der Brasilianer würde Neuwahlen begrüßen. Wie unbeliebt Temer bei der Bevölkerung ist, zeigte seine kurze Ansprache zur Eröffnung der Olympischen Spiele. Sie löste ein so lautes Pfeifkonzert aus, dass seine Worte im Maracanã-Stadion nicht mehr zu verstehen waren. Globo TV blendete die Pfiffe aus.
Solche Details tragen dazu bei, dass viele Brasilianer die Absetzung Rousseffs für den Coup einer Gruppe aus Wirtschaftsführern, konservativen Medienhäusern und korrupten Politikern halten.
Ohne Wirtschaftskrise wäre die Präsidentin wohl nicht in Bedrängnis geraten
Tatsächlich sind die Vorwürfe gegen Rousseff unter Juristen stark umstritten. Persönlich gilt sie als integer – im Gegensatz zur Mehrheit der Abgeordneten und Senatoren, die ihre Absetzung betrieben hat. Für viele Beobachter ist ebenso klar, dass Rousseff ohne die schwere Wirtschaftskrise Brasiliens niemals in Bedrängnis geraten wäre. Die Krise ermutigte die weiße brasilianische Oberschicht, endlich ihren Hass auf Rousseff, die linke Arbeiterpartei und die schwarze Unterschicht auf die Straße zu tragen.
Die Spaltung der Gesellschaft und die tiefe Vertrauenskrise der brasilianischen Politik ist bei den Olympischen Spielen in Rio allgegenwärtig. Bei einigen Wettbewerben trugen Zuschauer T-Shirts oder zeigten Schilder, auf denen stand „Fora Temer!“ – Temer raus! Manche versahen ihren Protest mit einer Erklärung für ausländische Besucher: „Come back democracy“.
Doch die Protestierer wurden von Sicherheitskräften und unter Applaus anderer Zuschauer aus den Arenen gebracht, was wiederum eine notwendige Diskussion über Meinungsfreiheit bei Olympischen Spielen ausgelöst hat. Das Lokale Organisationskomitee besteht auf einem Verbot politischer Äußerungen in den Arenen und beruft sich auf ein Sondergesetz. Das Gesetz, das ausgerechnet von Dilma Rousseff kurz vor ihrer Suspendierung im Mai unterzeichnet wurde, verbietet Banner, die keinen festlichen oder freundschaftlichen Charakter haben und stattdessen beleidigend, xenophob, rassistisch oder diskriminierend sind. Von politischen Äußerungen ist nicht die Rede.
Präsident Temer zumindest hat seine Lektion gelernt. Zur Abschlussfeier der Spiele will er nicht mehr nach Rio de Janeiro kommen.