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Kaum Daten zu Ansteckungswegen und tatsächlich Infizierten: Dunkelziffern, Infektionsorte, Behandlungsergebnisse - was wir alles noch nicht wissen

Sind Schulen wirklich keine Pandemie-Treiber? Wo stecken sich die meisten Menschen an? Und wie viele sind es wirklich? Niemand weiß es.

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„Wir müssen handeln – und zwar jetzt“, erklärte Bundeskanzlerin Angela Merkel nach der Corona-Krisenbesprechung. Klar ist, dass die Zahl der Infektionen gesenkt werden muss, um Covid-19 in Deutschland unter Kontrolle zu bringen. Ansonsten verdoppelt sich weiter innerhalb von nur einigen Tagen nicht nur die Zahl der Neuinfektionen, sondern, wie sich bereits abzeichnet, auch die Zahl schwer erkrankter Menschen. Auch ist zu erwarten, dass die Zahl der Todesfälle steigen wird. Wichtig zu wissen wäre also, wie Infektionsketten rechtzeitig unterbrochen werden können – und dazu müsste man die Orte kennen, an denen sich Menschen infizieren.

Wo stecken sich die Menschen an?

„Wir sind heute an einem Punkt, wo wir bundesweit im Durchschnitt für 75 Prozent der Infektionen nicht mehr wissen, woher sie kommen“, sagte Angela Merkel. Man könne daher auch nicht sagen, „dass ein bestimmter Bereich überhaupt nicht beiträgt“. Das stimmt. Doch die Lage ist noch undurchsichtiger, und jene 75 Prozent sind sogar eine starke Untertreibung.

Nur gut 6000 der 72.320 gemeldeten Fälle von vergangener Woche ordneten die Gesundheitsämter nach Zahlen von Dienstag Ausbrüchen zu und übermittelten an das Robert-Koch-Institut (RKI), in welcher Art Umgebung die Ansteckung höchstwahrscheinlich erfolgt ist: also etwa im Krankenhaus, am Arbeitsplatz oder in einem Restaurant. Für rund 92 Prozent der zuletzt gemeldeten Fälle lagen dem Institut also keine entsprechenden Informationen vor, in der Vorwoche war dies bei rund 85 Prozent der Fall.

Welche Rolle spielt dabei die Dunkelziffer?

Nur ein Teil aller Infektionen wird erkannt und als Fall gemeldet. Manche Ansteckungen verlaufen ohne Symptome, andere nur mit leichten. Viele werden nicht getestet. Daraus ergibt sich die Frage nach der viel diskutierten „Dunkelziffer“. Falls es doppelt so viele Infektionen wie Meldefälle gibt, bliebe für zuletzt 96 Prozent der Infektionen unbekannt, wo sie sich angesteckt haben. Wenn es viermal so viele wären sogar für 98 Prozent. Tatsache ist also, egal wie hoch die Dunkelziffer wirklich liegt: Wo Infektionen derzeit erfolgen, ist weitestgehend unbekannt.

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Dass ein erheblicher Teil aller Ansteckungen im privaten Umfeld erfolgt, ist einerseits selbstverständlich, da Menschen sich hier über längeren Zeitraum nahekommen. Andererseits lassen sich Infektionen im eigenen Haushalt auch besonders leicht nachweisen – anders als etwa solche in Restaurants, im Nahverkehr, in Fitnessstudios oder auch Schulen.

Wie ist die Infektionslage in Kitas und Schulen?

Die Rolle von Kitas und Schulen ist umstritten: Nach Ansicht mancher Experten spielen sie bei der Ausbreitung von Covid-19 praktisch keine Rolle. Andere sehen sie auch wegen Ausbrüchen an Schulen im Ausland als Treiber an. In Deutschland sind bislang nicht viele Fälle bekannt, bei denen innerhalb von Schulen viele Schüler oder Lehrer angesteckt wurden. Doch auch hier fehlen oftmals ganz einfach die notwendigen Informationen.

„Das Nichtvorhandensein eines Nachweises von etwas ist nicht der Nachweis des Nichtvorhandenseins dieses Etwas“ ist ein bei Statistikern beliebter Merksatz. In diesem Falle: Dass Schulen und Kitas wahre Viren-Karusselle sind, ist zwar nicht nachgewiesen. Es ist aber nicht nur möglich, sondern wegen der engen Kontakte und der oft kaum oder wenige Symptome zeigenden Kinder und Jugendlichen durchaus möglich, wie es Fälle in Frankreich, Israel und Kanada gezeigt haben.

Die Dunkelziffer der mit dem Coronavirus Infizierten ist weiterhin nur schwer zu schätzen.
Die Dunkelziffer der mit dem Coronavirus Infizierten ist weiterhin nur schwer zu schätzen.
© imago images/Future Image

Um hier an bessere Informationen zu kommen, braucht man vor allem die Schulen, Kitas und deren Verantwortliche. Vergleichsweise transparent geht das Bezirksamt Neukölln mit Infektionen an seinen Schulen um. Doch die Aufklärung der Infektionswege sei „mit Unwägbarkeiten und viel Arbeit im Einzelfall verbunden“, heißt es vom Bezirk. „Nach bislang vorliegenden Informationen konnten alle bekannt gewordenen Infektionen an Schulen einem externen Ereignis zugeordnet werden“, hieß es noch vor drei Wochen. Inzwischen hat sich dies offenbar geändert. Das Virus wird vor Ort übertragen: „An Oberschulen finden wir bisher eher Hinweise auf eine Ansteckung zwischen den Schülern als in Grundschulen“, erklärt ein Sprecher.

Doch nach wie vor würde eben oftmals nicht systematisch erhoben, wo die Ansteckung erfolgt ist: Hierzu müssten Schüler länger befragt werden, auch nach ihren Kontakten außerhalb der Schule. So spricht der Sprecher hier von einer „Wahrnehmung“, einem Eindruck. Systematisch erhobene Daten fehlen.

Eine am Mittwoch veröffentlichte Studie aus Bayern gibt nun erste Aufschlüsse, wie viele Kinder unerkannt mit Sars-CoV-2 infiziert waren, also ohne positiven Test. Forscher untersuchten hierzu mehr als15.000 Kinder auf Antikörper. Laut der Veröffentlichung haben sich rund sechsmal so viele Kinder angesteckt wie bislang bekannt. Die Hälfte der Kinder sei symptomfrei gewesen, berichten die Forscher.

Warum weiß man nicht mehr über die Infektionsorte?

„Wir hätten die Info gern“, beantwortete RKI-Chef Wieler bereits Anfang Mai die Frage, wo Ansteckungen wie häufig erfolgen. Es sei möglich, die Informationen an das RKI weiterzugeben, sagte er damals. Nicht einmal das stimmte, systematisch konnten die Daten damals nur für Ausbrüche und nicht für einzelne Fälle gemeldet werden.

Erst seit einer Änderung im Infektionsschutzgesetz Mitte Mai sind die Ämter eigentlich verpflichtet, Informationen zum wahrscheinlichen Infektionsweg innerhalb von zwei Arbeitstagen dem RKI zu melden. Eine Chance wurde vertan, in den viel ruhigeren Sommermonaten diese Informationen zu sammeln und das System zu optimieren: Bis Ende September erlaubte die RKI-Software es gar nicht, Angaben zum Infektionsort zu melden.

Obwohl die Ämter aktuell teils bereits völlig überlastet sind, rüsten sie ihre IT nun um: Rund jeder zweite Kreis in Deutschland benutze nun eine neue Softwareversion, erklärt eine RKI-Sprecherin gegenüber dem Tagesspiegel. „Dennoch wurden bisher nur bei 15 Prozent der Fälle, die in der neuen Version übermittelt wurden, Angaben zum Infektionsumfeld gemacht.“ Wann es hierzu genauere Auswertungen geben wird, ist offen. Dabei wären verlässliche Werte sehr wichtig, auch um gerichtsfest begründen zu können, warum etwa Gottesdienste stattfinden können, Kinos aber schließen müssen.

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So hob das Verwaltungsgericht Berlin die nun durch den Lockdown schon wieder obsolete Sperrstunde kürzlich auf: Gaststätten hätten „unter den bislang geltenden Schutz- und Hygienemaßnahmen keinen derart wesentlichen Anteil am Infektionsgeschehen gehabt, dass wegen der nunmehr zu verzeichnenden starken Zunahme von Neuinfektionen eine Sperrstunde als weitere Maßnahme erforderlich sei“, erklärte das Gericht unter Verweis auf RKI-Angaben, die aus genannten Gründen aber eigentlich überhaupt nicht aussagekräftig waren.

Detaillierte regionale Informationen zum Anteil der Fälle, bei denen die Infektionsquelle zu ermitteln war, veröffentlicht das RKI nicht. Anfragen von Mitte Mai ließ das RKI trotz seiner Transparenzpflichten, die sich unter anderem aus dem Informationsfreiheitsgesetz ergeben, bislang unbeantwortet. Die vom Tagesspiegel eingeschaltete Behörde des Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit erklärte vor drei Wochen, das RKI habe mitgeteilt, „dass dort noch interne Rückmeldungen ausstehen“. Man ginge jedoch davon aus, „die Angelegenheit kurzfristig zum Abschluss bringen zu können“. Bislang ist das noch nicht der Fall.

Welche Informationen fehlen dem Robert-Koch-Institut noch?

In der vergangenen Woche wurden für 75 Prozent der Fälle nicht gemeldet, ob die jeweiligen Infizierten sich in Pflegeheimen, Schulen, Kitas oder Flüchtlingsunterkünften aufhalten – obwohl dies mit gemeldet werden müsste. Bei nicht einmal jeder zweiten gemeldeten Infektion übermittelten die Gesundheitsämter, ob Symptome vorliegen – und welche. Ganz zu schweigen davon, dass seit Mai eigentlich auch Informationen zur Isolation von infizierten Menschen, zu Tätigkeitsverboten, zu anderen von Gesundheitsämtern vorgenommenen Schritten sowie zum Behandlungsergebnis gemeldet werden müssen. Hier erlaubt selbst die aktualisierte Software-Version noch keine umfassenden Angaben, räumt das RKI ein. Die übermittelten Informationen seien „noch nicht sehr vollständig“.

„Die Erfassung von Angaben zum Behandlungsergebnis ist sehr komplex und wird konzeptionell noch vorbereitet“, so eine Sprecherin auf Anfrage. „Da häufig Angaben des Verlaufs der Fälle nicht vollständig dokumentiert werden, wird auch hier von einer hohen Untererfassung auszugehen sein.“

Um das Infektionsgeschehen gut zu erfassen, wären außerdem Schätzungen zur Dunkelziffer dringend erforderlich. Große Studien zum Anteil der Bevölkerung, bei denen Antikörper auf eine frühere Infektion hinweisen, gibt es schon seit Monaten aus vielen Ländern. Zu Deutschland gibt es jedoch keine repräsentativen Erhebungen.

Eine kleine Studie hatte der Bonner Virologe Hendrick Streeck in der im Kreis Heinsberg gelegenen Gemeinde Gangelt vorgenommen. Mittels einer Rückrechnung über den Anteil der verstorbenen Personen schätzte das Team, wie viele Menschen bis Anfang Mai in Deutschland infiziert wurden: Die Dunkelziffer „ist um den Faktor 10 größer als die Gesamtzahl der offiziell gemeldeten Fälle“, behaupteten sie. Dabei umfasste ihre Studie jedoch nur sieben, in einer anderen Auswertung dann acht Todesfälle.

Die statistische Unsicherheit war sehr hoch. Und da sich die Zahl der an Covid-19 verstorbenen Menschen in Gangelt seitdem knapp verdoppelt hat, während die Anzahl der Fälle ungefähr gleich geblieben ist, könnte der Faktor auch erheblich kleiner sein.

Wie kann die Dunkelziffer besser geschätzt werden?

Die aktuelle Dunkelziffer lässt sich kaum abschätzen, da zuletzt viel mehr junge, nur leicht erkrankte Menschen positiv getestet wurden als früher. Das Verhältnis von Todesfällen zur Gesamtzahl infizierter Personen hat sich verschoben. Mehrere Studien versuchen aktuell, durch repräsentative Stichproben zu erheben, welcher Anteil der Bevölkerung Antikörper gebildet hat. So hat das RKI Anfang des Monats bekanntgegeben, dass es mit dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung bei 34000 Erwachsenen Daten erheben will: Damit würden „erstmals aussagekräftige Ergebnisse zum Antikörperstatus für ganz Deutschland vorliegen“. Die Studie werde „unser Bild zum bisherigen Sars-CoV-2-Geschehen in Deutschland weiter vervollständigen“, sagte Wieler.

Die Untersuchung, bei der Teilnehmer selbst einen Abstrich vornehmen und sich Blut aus dem Finger entnehmen und einschicken sollen, soll bis Ende 2020 laufen. „Die Daten zur Seroprävalenz in Deutschland sollen im ersten Quartal 2021 veröffentlicht werden, ein genauer Termin steht noch nicht fest“, sagt die RKI-Sprecherin. Ähnliche Studien führen die Charité oder das Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung jeweils mit Partnern durch, wobei bei der Charité-Studie nur rund 11000 Probanden teilnehmen sollen. Wann jeweils Ergebnisse vorgestellt werden, ist derzeit unklar.

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