IS und Türkei: Dschihadisten aus Syrien nutzen Türkei als Rückzugsraum
Die IS-Dschihadisten aus Syrien und dem Irak stehen auch an der Grenze zur Türkei. Die türkische Opposition wirft der Regierung von Recep Tayyip Erdogan jetzt Unterstützung der Terroristen vor.
Die Terrorgruppe „Islamischer Staat“ (IS) hat in den vergangenen Monaten große Teile des Iraks und Syriens unter ihre Kontrolle gebracht und ein „Kalifat“ ausgerufen. Auch an den Südgrenzen der Türkei stehen die Dschihadisten. Für Ankara sind die sunnitischen Extremisten ein wachsendes Sicherheitsproblem – doch daran ist die türkische Regierung auch selbst schuld, sagen Kritiker.
Im Mai schlug Celalettin Lekesiz Alarm. In einem Schreiben an das Innenministerium in Ankara beschrieb der Gouverneur der türkischen Provinz Hatay an der Grenze zu Syrien, wie IS-Mitglieder Teile des Gebietes an der Grenze als Aufmarsch- und Rückzugsraum nutzen.
Die Beispiele des Gouverneurs, dessen Bericht an die Presse durchsickerte, sprachen für sich. Im März seien 150 IS-Kämpfer per Bus aus Syrien an die türkische Grenze gekommen und in Gruppen von je 40 bis 50 Mann über die Demarkationslinie in die Türkei spaziert. Nach einer mehrtägigen Ruhepause in einem Hotel der türkischen Grenzstadt Reyhanli seien 100 IS-Mitglieder wieder nach Syrien zurückgekehrt. Weitere 45 Kämpfer wurden von der türkischen Polizei noch in Reyhanli festgenommen – sie drohten der Türkei mit Anschlägen.
Laut Lekesiz nutzt IS die ganze Türkei als Anreisegebiet ihrer Kämpfer. Dschihadisten aus dem Ausland fliegen demnach nach Istanbul und reisen ganz legal mit ihren Pässen ein. Von Kontaktmännern in Empfang genommen, fliegen oder fahren sie anschließend ins Grenzgebiet und überqueren in kleinen Gruppen die grüne Grenze nach Syrien. Die Koordination mit den IS-Truppen auf syrischer Seite laufe per Handy, WhatsApp oder Skype.
Opposition wirft Regierung Unterstützung der IS vor
Der Gouverneur berichtete zudem von mehreren versuchten Anschlägen des IS auf Ziele in der Türkei. Dass der IS in der Türkei aktiv ist, steht spätestens seit dem Frühjahr fest. Damals erschossen IS-Kämpfer auf dem Rückweg aus Syrien im zentralanatolischen Nigde einen türkischen Soldaten, einen Polizisten und einen Zivilisten. Eines der IS-Mitglieder war der Deutsch-Chinese Benjamin Xu.
Die türkische Opposition sieht sich durch den Vorfall von Nigde und den Bericht von Gouverneur Lekesiz in ihren Befürchtungen bestätigt. Seit Jahren warne man vor der Gefahr einer Destabilisierung des Grenzgebietes durch islamistische Extremisten, kritisierten die Abgeordneten Refik Eryilmaz und Mehmet Ali Ediboglu, die Hatay für die säkularistische Partei CHP im Parlament von Ankara vertreten.
Die CHP wirft der Regierung des neu gewählten Präsidenten Recep Tayyip Erdogan auch vor, Waffenlieferungen an die IS geduldet oder sogar selbst organisiert zu haben. Verletzte Islamisten sollen in türkischen Krankenhäusern medizinisch versorgt worden sein. Hinter der Unterstützung für die Radikalen habe die Überlegung gestanden, dass die Dschihadisten für einen beschleunigten Sturz des Assad-Regimes in Syrien sorgen könnten. Doch diese Rechnung sei nicht aufgegangen.
Die Opposition weist zudem darauf hin, dass sich türkische Regierungspolitiker weigern, den IS offen als terroristisch zu bezeichnen. Auch im westlichen Ausland wuchs die Sorge angesichts der Berichte über türkische Hilfe für die Extremisten.
Extremisten mischen sich unter die Flüchtlinge
Ankara weist dies strikt zurück; Vorwürfe einer Zusammenarbeit mit dem IS seien Landesverrat, schimpfte der designierte Ministerpräsident Ahmet Davutoglu kürzlich. Inzwischen kontrolliert die Türkei die Grenze zu Syrien offenbar etwas schärfer. Die „Washington Post“ zitierte Mitglieder der Dschihadisten-Gruppe, der Grenzübertritt sei seit neuestem schwieriger, wenn auch nicht unmöglich.
Erdogans Regierung verweist darauf, dass eine 900 Kilometer lange Grenze wie die zu Syrien nicht hundertprozentig zu überwachen ist. Zudem verfolgt Ankara eine „Politik der offenen Tür“ gegenüber syrischen Flüchtlingen: Menschen, die über die Grenze kommen, werden also nicht unbedingt scharf kontrolliert. Fast 1,5 Millionen Syrer haben in der Türkei Zuflucht gefunden. Regierungskritiker befürchten, dass sich Extremisten unter die Flüchtlinge mischen.
Ein weiterer Grund für die Zurückhaltung der Regierung mit der IS ist die Tatsache, dass die Dschihadisten seit Mitte Juni fast 50 Mitarbeiter des türkischen Konsulats der nordirakischen Stadt Mossul in ihrer Gewalt haben. Ankara betont, man unternehme alles, um das Leben der Geiseln nicht aufs Spiel zu setzen und eine Rückkehr der Gefangenen zu erreichen.
Nach einem Bericht der unabhängigen Tageszeitung „Taraf“ ist Ankara bereit, ein osmanisches Grabmal auf syrischem Staatsgebiet, das laut Verträgen als Exklave der Türkei und damit Staatsgebiet gilt, im Gegenzug für die Freilassung der Geiseln der IS zu überlassen. Das türkische Außenamt warf „Taraf“ darauf eine unverantwortliche Berichterstattung vor - doch Regierungsgegner betonten, ein eindeutiges Dementi sei ausgeblieben. Die Opposition will den angeblichen Tauschhandel im Parlament zur Sprache bringen.