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Christian Drosten, Direktor des Instituts für Virologie an der Charité Berlin (Archivbild)
© dpa/Michael Kappeler

Zusätzliche Maßnahmen in „allernächster Zeit“: Drosten und Lauterbach reicht die Notbremse nicht aus

Das Kabinett beschließt bundesweite Vorgaben für bestimmte Inzidenzen. Experten fordern mehr. Vizekanzler Scholz will keine „lange wissenschaftliche Debatte“.

Die vom Bundeskabinett beschlossene Änderung des Infektionsschutzgesetzes – die bundesweite Corona-Notbremse – reicht nach Ansicht von Fachleuten zum Kampf gegen die Pandemie allein nicht aus. Wegen der Lage auf den Intensivstationen erwartet der Virologe Christian Drosten, dass zusätzlich zur Notbremse weitere Maßnahmen nötig sein werden.

„Ich denke, dass man anhand der sich jetzt einstellenden Situation in den Krankenhäusern auch noch mal anders reagieren muss“, sagte der Corona-Experte von der Berliner Charité am Dienstag im Podcast „Coronavirus-Update“ bei NDR-Info. Dies müsse sicherlich in „allernächster Zeit“ geschehen.

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„Ich erwarte jetzt nicht ohne weiteres, dass man damit die Situation in der Intensivmedizin kontrollieren kann“, sagte Drosten mit Blick auf die Entscheidung.

Das Bundeskabinett und die Koalitionsfraktionen hatten am Dienstag den Gesetzentwurf zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes beschlossen, der die Notbremse ab einem Inzidenzwert von 100 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner in einer Region bundeseinheitlich festschreiben soll.

Kommende Woche sollen die Neuerungen erst vom Parlament beschlossen werden und dann den Bundesrat passieren - trotz deutlicher Kritik einiger Länder und der Opposition im Bundestag.

Lauterbach warnt vor Verwässerung der Maßnahmen

Der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach begrüßte die beschlossene Notbremse, sprach sich aber auch für eher schärfere Maßnahmen aus. „Ich befürchte sogar, dass das Gesetz in der Fassung, wie wir es jetzt haben, noch nicht einmal ausreichen wird“, sagte Lauterbach am Mittwoch im Deutschlandfunk.

Maßnahmen wie Ausgangsbeschränkungen am Abend und vermehrte Coronatests in Unternehmen wirkten zwar. „Aber im Großen und Ganzen sind diese Schritte nicht ausreichend, um damit den R-Wert so stark zu senken, weil wir ja ein Ziel haben, unter eins zu kommen, so dass wir quasi zum Stoppen kommen“, sagte Lauterbach. „Wenn dies jetzt noch verwässert wird, das ist überhaupt nicht gut.“

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Der R-Wert bezeichnet die Anzahl der Personen, die ein Covid-19-Infizierter im Durchschnitt ansteckt. Der bundesweite Sieben-Tage-R-Wert lag dem Robert-Koch-Institut zufolge am Dienstag bei 1,08 (Vortag: 1,09). Das bedeutet, dass 100 Infizierte rechnerisch 108 weitere Menschen anstecken.

Aerosolforscher ist gegen Ausgangsbeschränkungen

Der Aerosolforscher Gerhard Scheuch hat unterdessen davor gewarnt, Menschen mit Ausgangsbeschränkungen in die aus infektiologischer Sicht viel gefährlicheren Innenräume zu treiben. Die mit der geplanten Notbremse verbundenen Ausgehverbote zwischen 21 und 5.00 Uhr seien aus fachlicher Sicht kontraproduktiv, sagte der Ex-Präsident der internationalen Gesellschaft für Aerosolforschung am Mittwoch im „Morgenecho“ von WDR 5.

„Wenn wir Ausgangssperren verhängen, dann suggerieren wir der Bevölkerung: Achtung! Draußen ist es gefährlich. Aber genau das Gegenteil ist der Fall. Wenn die Leute in Innenräumen bleiben, dann ist es gefährlich“, sagte Scheuch.

Führende Aerolsolforscher aus Deutschland hatten deswegen bereits in einem Offenen Brief an die Bundesregierung und die Landesregierungen einen Kurswechsel gefordert. Die Wissenschaftler wehrten sich dagegen, „dass man „draußen“ jetzt plötzlich katastrophisiert“, sagte Scheuch.

Joggen mit Maske, gesperrte Parks oder ein Verbot, abends noch auf einen Spaziergang oder eine Zigarette aus einer möglicherweise beengten Wohnung heraus an die frische Luft zu gehen, seien „absurde Maßnahmen“. Stattdessen sollte es den Bürgern ermöglicht werden, raus zu gehen. Corona-Infektionen seien „ein Innenraum-Problem“, sagte Scheuch.

Wer unbedingt andere Leute treffen müsse, solle die Zahl stark begrenzen und die Zusammenkünfte kurz halten, empfahl Scheuch. „Jede Stunde länger treffen zusammen in Innenräumen ist ganz, ganz gefährlich.“ Das sei den meisten immer noch nicht klar. Unterricht in Schulen sei nur mit einer Kombination aus Schutzmaßnahmen möglich: Lüften, Raumfilter, Masken aufsetzen, kurze Unterrichtszeit und große Räume.

Scholz warnt vor langer wissenschaftlicher Diskussion

Angesichts der Kritik warnte Vizekanzler Olaf Scholz (SPD) davor, den aktuellen Gesetzentwurf für die bundeseinheitliche Corona-Notbremse zu zerreden. „Unverantwortlich wäre es jetzt, eine ganz lange wissenschaftliche Debatte darüber zu führen, was man alles auch anders machen könnte, ohne zu handeln“, sagte der Bundesfinanzminister der „Saarbrücker Zeitung“.

„Wir können jetzt nicht Doktorarbeiten und Habilitationen schreiben. Wir müssen die Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger schützen“, sagte Scholz. Es müssten jetzt Maßnahmen beschlossen werden, die auch Wirkung zeigten.

Auch Einwände gegen die geplanten Ausgangsbeschränkungen ab einem Inzidenzwert von 100 wies Scholz zurück. „Es geht darum, Kontakte zu beschränken, und das ist ein Weg, das zu erreichen - neben vielen anderen, die ebenfalls in dem Gesetz vorgesehen sind“, hob er hervor. „Ausgangsbeschränkungen wirken. Wir haben in vielen Ländern gesehen, dass sie zu einer Senkung der Infektionen beitragen“, sagte Scholz. (Tsp mit Agenturen)

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