Der ewige Konflikt im Nahen Osten: Droht Israel eine dritte Intifada?
Anfang Juli werden die Annexionspläne Israels konkret. Die Umsetzung wird zu Konflikten führen. Die Stimmung ist aufgeheizt. Ein Besuch vor Ort.
Schön ist es in jenem Landstrich, dessen Status die Welt bewegt. Vom Aussichtspunkt in Mitzpe Jericho, einer israelischen Siedlung im Jordantal, fällt der Blick auf die sanft geschwungenen braunen Hügel der Judäischen Wüste; am Horizont glitzert das Tote Meer. Grillen zirpen, sonst ist es still.
„Ich liebe es hier“, sagt Adam Kenigsberg, ein stämmiger Amerikaner mit dunklem Bart. Vor elf Jahren wanderte er nach Israel ein, 2012 zog er mit seiner Frau nach Mitzpe Jericho. „Wir führen ein Dorfleben“, schwärmt er, „die Kinder spielen draußen. Und in einer Viertelstunde ist man in Jerusalem.“
Sehr weit weg wirken in seiner Idylle die Schlagzeilen der letzten Wochen, die klingen, als könnte das Schicksal Mitzpe Jerichos die Region entflammen. Die Siedlung von rund 2500 Einwohnern liegt im Westjordanland, das die Israelis militärisch kontrollieren und die Palästinenser für ihren Staat beanspruchen.
Jahrzehntelang bestand global weitgehend Konsens darüber, dass die endgültige Grenze zwischen dem israelischen und einem zukünftigen palästinensischen Staat in Verhandlungen bestimmt würde.
Doch Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hat diesen Konsens aufgekündigt: Am 1. Juli darf er die Annexion israelischer Siedlungen im Westjordanland einleiten, so steht es im Koalitionsvertrag.
Und das Jordantal könnte als Erstes an der Reihe sein: Schon im Herbst hatte Netanjahu versprochen, den Landstrich zum Staatsgebiet zu erklären. Dabei treibt ihn nicht nur innenpolitisches Kalkül: Bereits 1993 schrieb er in seinem Buch „A Place Among the Nations“, Israel dürfe das Jordantal aus geostrategischen Gründen nie aufgeben.
Was wird aus der Zwei-Staaten-Lösung?
Eine unilaterale Annexion, so fürchten viele, könnte die Hoffnung auf eine Zwei-Staaten-Lösung endgültig begraben. Der Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde, Mahmoud Abbas, hat aus Protest bereits jegliche Kooperation mit der israelischen Seite auf Eis gelegt und droht, die Autonomiebehörde aufzulösen.
Die meisten EU-Regierungen zeigen sich alarmiert, ebenso arabische Staatsführer und große Teile der US-Demokraten. Medien sprechen von einem „Tabubruch“, einer Zäsur.
Nach Mitzpe Jericho jedoch ist die Aufregung nicht vorgedrungen. „Ehrlich gesagt habe ich mich mit der Annexion nicht viel beschäftigt“, sagt Adam Kenigsberg. „Ich bin dafür, aber ich glaube nicht, dass sie unser Leben wesentlich verändern würde.“
Einen kurzen Fußweg vom Aussichtspunkt entfernt lebt der 62-jährige Israeli Moshe Eyal in einem aufgeräumten, gut klimatisierten Einfamilienhaus. Im Eingang hängt ein großes Foto: Darauf steht Eyal, schlank, weißhaarig, mit feinem Lächeln, neben seiner Frau, beide umringt von ihren sechs Kindern und 16 Enkelkindern.
„Mein Vater hat in allen israelischen Kriegen gekämpft, bis zum Yom-Kippur-Krieg“, erzählt Eyal, während er Zimtkekse auftischt, die seine Frau gebacken hat. „Ich bin mit einer zionistischen Weltsicht aufgewachsen.“ Schon als Jugendlicher schloss er sich „Gush Emunim“ an, einer nationalreligiösen Bewegung, die für die Besiedlung des Westjordanlands eintrat, das Israel 1967 im Sechs-Tage-Krieg von Jordanien erobert hatte. 1982 zog er mit seiner Frau nach Mitzpe Jericho.
Moshe Eyal trägt eine gehäkelte Kippa, er ist gläubig, wie alle Anwohner des Dorfes. In der Rückkehr der Juden in ihr angestammtes Land sieht er göttliche Fügung. Den Ausdruck „Annexion“ lehnt er ab: Das klänge, als würde Israel sich Gebiete unrechtmäßig einverleiben. Stattdessen spricht er von „Souveränität“, die die Regierung ausdehne – ein Schritt, den er für überfällig hält. „Ich finde es furchtbar schade, dass Israel nicht gleich nach dem Sechs-Tage-Krieg die Territorien zum Staatsgebiet erklärt hat.“
Viele ausländische Beobachter sehen in den Plänen nicht göttlichen Willen, sondern einen höchst weltlichen Verstoß gegen das Völkerrecht. Zu ihnen zählt der deutsche Außenminister Heiko Maas, der Jerusalem kürzlich einen Besuch abstattete, um vor dem Schritt zu warnen.
„Der Deal des Jahrhunderts“
Die Wirkung dürfte begrenzt sein. Netanjahu scheint fest entschlossen, die Unterstützung aus Washington zu nutzen. Bei seinem Annexionsvorhaben beruft er sich auf den „Deal des Jahrhunderts“, den US-Präsident Donald Trump Anfang des Jahres vorgestellt hatte. Er sieht vor, dass Israel seine Siedlungen im Westjordanland behalten darf, und schlägt den Palästinensern zum Ausgleich ein paar lose verbundene Gebiete an der israelisch-ägyptischen Grenze zu.
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Die Palästinenserführung hatte das schon vorher empört abgelehnt und jegliche Gespräche mit den USA und Israel ausgeschlossen – womit sie ungewollt Netanjahu in die Hände spielt, der argumentiert, er würden ja gern verhandeln, bloß fehle ihm leider der Partner dafür.
Israels Rechte lehnt einen Palästinenserstaat ab
Wesentliche Teile der israelischen Rechten lehnen die Gründung eines Palästinenserstaates ab. Doch welchen Status sollen die fast drei Millionen Palästinenser im Westjordanland erhalten, wenn Israel zugleich seine jüdische Mehrheit und seinen demokratischen Charakter bewahren will?
Für Israel ist das eine der sensibelsten Fragen, doch Moshe Eyal fällt die Antwort leicht: Israel solle nur jene Palästinenser einbürgern, die dem jüdischen Staat die Treue schwörten – in ihrem eigenen Interesse: „Der beste Ort für Araber im Nahen Osten ist der Staat Israel“, sagt er. „Wir bauen, wir pflanzen, wir entwickeln das Land, wir schaffen Arbeitsplätze. Unsere Präsenz und Kontrolle ist gut für alle, Juden wie Araber.“
Das Wort „Palästinenser“ vermeidet er. In seinen Augen gibt es kein palästinensisches Volk, bloß eine Ansammlung arabischer Stämme und Clans.
Wenige Kilometer nordöstlich, in einem verrauchten Büro am Stadtrand Jerichos, sieht die Welt ganz anders aus. „Der Plan der amerikanischen und israelischen Regierungen soll die Existenz des palästinensischen Volkes in diesem Land beenden“, sagt Mowafaq Hashem, ein 50-jähriger Palästinenser.
Altbekannte Beschwerden
Hashem leitet eine Organisation zur Vermarktung landwirtschaftlicher Produkte. „Israel ist ein Terrorstaat, der sich nicht um internationales Recht schert“, grollt er und listet altbekannte Beschwerden auf: Israel verdränge die Palästinenser von ihren Feldern, beraube sie ihrer Ressourcen und unterjoche sie. In seiner Erzählung klingt die geplante Annexion nicht wie eine Zäsur, sondern wie der jüngste Punkt in einer langen Liste israelischer Vergehen.
Ein „Service“, ein gelbes Sammeltaxi, fährt von Jericho aus gen Norden in das Dorf Al-Auja. Hier führt Mohanad Al-Saaideh das „Auja Eco Center“, das ökologische Workshops, Wanderungen und Gästezimmer anbietet.
„Sag dem Fahrer, dass du zu Mohanad willst, die kennen mich alle“, rät er am Telefon, und genauso ist es: Vor dem Gebäude hängt ein Schild von der US-Hilfsorganisation USAID, drinnen sitzt der 38-jährige Mohanad Al-Saaideh. Sein vor zehn Jahren mit internationalen Fördergeldern gegründetes Zentrum deckt sich heute selbst.
Resignation und Müdigkeit ist weit verbreitet
Über den israelischen Plan und die ganze Aufregung darum kann Mohanad nur lachen: „Was Netanjahu und Trump mit dem Jordantal vorhaben, passiert schon seit 1967. Die Israelis kontrollieren Straßen, Grenzen, Ressourcen, sie kontrollieren unser Leben.“ Er sei Trump sogar dankbar. „Dank ihm beleuchten die Medien diese Geschichte.“
Kritiker des Annexionsplans warnen, dessen Umsetzung könnte Gewaltausbrüche provozieren, womöglich gar eine dritte Intifada. Doch weit häufiger als Wut begegnet einem in den Palästinensergebieten Resignation und Müdigkeit.
„Ich glaube, die einzigen Menschen, die sich vor einer rechtlichen Annexion fürchten, sind diejenigen, die noch an die Illusion einer Zwei-Staaten-Lösung glauben“, sagt Salem Barahmeh, Direktor des Palestine Institute for Public Diplomacy in Ramallah. „Wir Palästinenser haben diese Hoffnung vor langer Zeit verloren.“
Kaum jemand weiß, was am 1. Juli passiert. Als sicher gilt nur, dass Netanjahu sich mit Washington absprechen wird – von dort kamen zuletzt widersprüchliche Signale. Es gab Gerüchte, Netanjahu könnte sich zunächst mit einer „symbolischen“ Annexion von einigen Siedlungen nahe Jerusalem begnügen.
Die einzigen, die dem 1. Juli gelassen entgegensehen, scheinen die Menschen vor Ort zu sein, sei es aus Selbstsicherheit oder Resignation. „Mit der Annexion erkennt die Regierung an, was längst Realität ist“, sagt Adam Kenigsberg in Mitzpe Jericho.
„Annexion geschieht seit langer Zeit“, sagt Mohanad Al-Saaideh. „Die Leute sind müde. Politik kümmert sie nicht mehr.“
Mareike Enghusen