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Nach nur elf Stunden Beratung haben die zwölf Geschworenen im Fall George Floyd den Ex-Polizisten Derek Chauvin in allen drei Anklagepunkten schuldig gesprochen.
© Nathan Howard/Getty Images/AFP

Erleichterung nach Chauvin-Schuldspruch in den USA: Doch die Hoffnungen könnten allzu schnell enttäuscht werden

Im Fall George Floyd ist der Ex-Polizist Derek Chauvin gleich drei Mal schuldig gesprochen worden. Doch das kann nur der Anfang sein. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Juliane Schäuble

Dieses Urteil ist lediglich ein Anfang. Wenn auch ein bemerkenswerter. Nach nur elf Stunden Beratung haben die zwölf Geschworenen im Fall George Floyd den Ex-Polizisten Derek Chauvin in allen drei Anklagepunkten schuldig gesprochen. Die Beweislage war offensichtlich genauso erdrückend, wie es die meisten Beobachter des Prozesses empfunden hatten.

Der Jubel, der danach nicht nur in Minneapolis, sondern auch in vielen anderen amerikanischen Städten ausbrach, war schwer zu überhören. Genauso wie die Mahnungen, dass die Arbeit nun erst beginne.

Denn dieses Urteil, so sehr es erwartet wurde, ist eine Ausnahme: Viel zu selten werden Polizisten in den USA in ähnlichen Fällen zur Verantwortung gezogen. Und die noch während der Verhandlung ausgebrochenen Proteste über weitere, durch Polizisten getötete Schwarze zeigen, dass das Problem alles andere als gelöst ist.

Die gute Nachricht: Amerika hat nun einen Präsidenten, der den Schmerz anderer fühlt – auch, weil er in seinem Leben selbst schon so viel erleiden musste. Und einen Präsidenten, der offen zugibt, dass sein Land ein strukturelles Rassismus-Problem hat – „ein Schandfleck auf der Seele unserer Nation“, wie Joe Biden am Abend erklärte. Das ist wichtig, denn: Ohne Einsicht, dass etwas schiefläuft, gibt es wenig Chancen auf Veränderung.

Joe Biden hat „Heilung“ versprochen

Im Wahlkampf hat Biden seinem Land Heilung versprochen. In seinem Telefonat mit Floyds Familie nach dem Urteil äußerte der US-Präsident „Erleichterung“. Ähnliches taten seine Vizepräsidentin Kamala Harris, sein Vorgänger Barack Obama und gefühlt auch sonst jeder Demokrat in den USA. Die Erleichterung hat indes sicherlich auch ein bisschen mit den Sorgen zu tun, dass die Gewalt in Amerikas Innenstädten nach einem Freispruch oder einem milden Urteil wohl neu entflammt wäre.

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Der Tod des Schwarzen Floyd, die Wut der Demonstranten und der Schuldspruch des weißen Polizisten bewegen das Land, in dem sich exzessive Polizeigewalt so häufig gegen Afroamerikaner und andere Minderheiten richtet. Wer wie Joe Biden zuhören will, kann den Schmerz und die Angst spüren. Schwarze Eltern berichten von ihrer Panik, wenn das Telefon klingelt und ihre Teenager-Kinder noch nicht zuhause sind. Von „dem Gespräch“, das sie zwangsläufig mit ihren Heranwachsenden führen müssen, um zu vermeiden, dass die bei einer Polizeikontrolle ihr Leben riskieren.

Ein Land atmet auf: Eine Demonstrantin in New York reagiert auf die Urteilsverkündung in Minneapolis.
Ein Land atmet auf: Eine Demonstrantin in New York reagiert auf die Urteilsverkündung in Minneapolis.
© Eduardo Munoz/REUTERS

Die Demonstranten, die vor dem Gerichtsgebäude in Minneapolis Wache hielten, sprechen nun von einem „neuen Tag in Amerika“. Sie sagen fast erstaunt: „We Matter“ – wir sind ja doch wichtig. Befeuert von der dreifachen Verurteilung Chauvins, die sie gefordert, die sie ersehnt und derer sie sich dennoch nicht wirklich sicher waren, sind ihre Hoffnungen schier in den Himmel gewachsen: dass sich nun endlich etwas Fundamentales ändert, dass sie der Gleichberechtigung entscheidend nähergekommen sind. Die Gefahr, dass diese Hoffnungen schnell wieder enttäuscht werden könnten, ist nicht gerade klein.

Damit sich strukturell etwas ändert, muss zum Beispiel die Polizeiausbildung reformiert werden. Doch das nach George Floyd benannte Polizeireform-Gesetz im Kongress, vom demokratisch geführten Repräsentantenhaus bereits vor rund einem Jahr verabschiedet, muss erst noch vom Senat beschlossen werden. Angesichts der extrem knappen Mehrheit der Demokraten in dieser Parlamentskammer alles andere als eine leichte Aufgabe.

Was, wenn es kein Video gibt?

Wie viel Geduld die „Black Lives Matter“-Demonstranten mit den Gesetzgebern in Washington haben werden, wird sich wohl schon bald zeigen – wenn die nächsten Fälle von Polizeigewalt, absichtlicher oder unabsichtlicher, Amerika erschüttern. Und die Frage der Verantwortung nicht zufriedenstellend geklärt wird.

Denn bei all dem Schock über das Schicksal George Floyds und all der „Erleichterung“ über das „richtige Urteil“ (O-Ton Biden): Wer kann sich sicher sein, dass das Urteil der zwölf Geschworenen so hart ausgefallen wäre, wenn nicht eine mutige Passantin ihr Handy gezückt hätte?

Die Beweislage im Fall Derek Chauvin war ziemlich eindeutig. Das neun Minuten und 29 Sekunden andauernde Martyrium von George Floyd haben Millionen im Internet nachverfolgen können – und während der dreiwöchigen Verhandlung sahen es auch die Geschworenen unzählige Male. Sie sahen Chauvins Knie auf Floyds Nacken, den ungerührten Gesichtsausdruck des Polizisten unter der lässig hochgeschobenen Sonnenbrille, als der Erstickende seine letzten Worte ausstieß: „I can’t breathe.“

Das nächste Mal wird der Fall vielleicht nicht so eindeutig liegen – oder so klar dokumentiert sein. Genau dafür brauchen die Amerikaner nachvollziehbare Regeln – und nicht zuletzt die Gewissheit, dass Fehlverhalten, wo es denn auftritt, geahndet wird. Das hilft beiden Seiten.

Denn wie sagte der Staatsanwalt Steve Schleicher in seinem Abschlussplädoyer? „Es gibt nichts Schlimmeres für gute Polizisten als schlechte Polizisten.“ Amerika sollte hoffen, dass sein neuer Präsident Biden recht hat, wenn er sagt: „Dies kann ein Moment bedeutenden Wandels sein.“

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