Politik auf Sommerloch-Niveau: Dieser Wahlkampf verhöhnt die Bürger
Sehr viel Lärm um fast nichts. Mehr kommt bei der Auseinandersetzung der Parteien bisher nicht heraus. Ein Zwischenruf.
Die Ära Angela Merkel endet; Deutschland, Europa und die Welt stehen vor gigantischen Herausforderungen. Und was machen Union und SPD? Sie steigen in den beginnenden Wahlkampf auf politischem Sommerloch-Niveau ein.
Seit Wochen toben Scheinauseinandersetzungen, die für die Wählerinnen und Wähler im Land einen Erkenntnismehrwert von Null haben. Vielmehr doch: Sie taugen dazu, eventuelle Nichtwähler zu vergraulen. Beispiele?
Benzinpreis. Da wird eine Aussage der Grünen-Spitzenkandidatin – „Ja, wir sagen, dass der Benzinpreis schrittweise weiter angehoben werden muss auf die 16 Cent...“ – verkürzt in die Debattenmühle geworfen. Benzin dürfe nicht noch teurer werden, schimpften SPD und Union. Dass sie selbst als Regierung gerade den CO2-Preis erhöht haben und damit auch den Benzinpreis, verschwiegen sie. Sie verschwiegen auch, dass die Grünen zum Ausgleich ein jährliches Energiegeld an die Bürger auszahlen wollen, über das es durchaus zu streiten lohnen würde. Funktioniert das überhaupt? Verwaltungstechnisch und rechtlich? Auf politischer Ebene stellt diese Fragen gerade keiner.
Mit solch komplexen Dingen wollen sich Vertreter:innen der noch amtierende GroKo offensichtlich nicht aufhalten. Das könnte ja nur ins Licht rücken, dass die beiden Parteien auf dem Feld bisher inhaltlich mager aufgestellt sind.
Um das Bild zu vervollständigen: Selbst Politker:innen der Linken waren sich nicht zu schade, in die Benzinpreisdiskussion mit verkürzten Vorwürfen über zu hohe Benzinpreise an die Adresse der Grünen einzusteigen. Von „unerträglicher Arroganz“ war da die Rede.
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Ähnliches bei den vermeintlichen „Schrottmasken“ des Jens Spahn, die angeblich an Obdachlose und Menschen mit Behinderung gehen sollten. Hier fährt die SPD-Spitze aus Esken und Borjans schwerstes rhetorisches Geschütz auf („Verachtung“, „menschenunwürdig“) bis hin zur kaum verhohlenen Forderung, der Gesundheitsminister müsse seinen Posten räumen.
Dumm nur, dass die Vorwürfe gegen Spahn nach und nach in sich zusammenfielen und einige in der SPD beim Jens-Bashing nicht mitmachen wollten. Echte Aufklärung? Fehlanzeige. Dabei gäbe es einiges aufzuklären, bei Jens Spahn und seinen Masken.
Nun ganz aktuell: Die angebliche Holocaust-Relativierung der Publizistin Carolin Emcke auf dem Grünen-Parteitag. CDU-General Paul Ziemiak fordert auf Twitter eine Klarstellung von den Grünen, er prangert eine „unglaubliche geschichtsvergessene Entgleisung“ an.
Was passiert war? Emcke hatte über Verschwörungstheorien gesprochen und wie sie funktionieren. Und hatte dabei auch erwähnt, dass sich diese Verschwörungstheorien auch gegen Juden richten und demnächst auch gegen Klimaforscher und –forscherinnen richten könnten. Damit kann sie Recht haben oder nicht. Holocaust-Relativierung oder Antisemitismus ist das nicht.
Annalena Baerbock als Moses mit Steintafeln
Und dann sorgte in dieser Woche noch die Kampagne der radikal-liberalen Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (die in Zeitungen und auf deren Webseiten erschien, darunter auch dem Tagesspiegel) für Aufregung. Sie zeigte im Großformat Annalena Baerbock als Moses mit Steintafeln. Statt Geboten standen auf ihnen Verbote. Die Anzeige erinnerte in ihrer plumpen Drastik an die US-Wahlkämpfe unter Donald Trump.
Bei all dem kann sich fragen: Ist das wirklich das Niveau auf dem dieser für die Zukunft so entscheidende Wahlkampf geführt werden wird? Und was ist, wenn es mal wirklich um etwas Wichtiges oder Berechtigtes geht? Wie wollen die Politiker dann noch rhetorisch eskalieren?
Darauf könnte man antworten: Ein bisschen oder ein bisschen mehr hat’s schon immer geschmutzelt im Wahlkampf. Heißt ja auch Wahlkampf und nicht Wahlkuschel.
Nüchternheit und Redlichkeit wären jetzt angebracht
Man kann aber auch eine weitere Frage anschließen: Sind die Politiker überhaupt noch fähig, auf einem Niveau öffentlich zu streiten, das den Wähler, die Wählerin ernst nimmt? Zumindest leise Zweifel sind nach den vergangenen Wochen angebracht.
Und noch etwas. Etwas mehr Nüchternheit und Redlichkeit in der Attacke wäre in Zeiten einer aufgeheizten Stimmung vor allem in den sozialen Netzwerken absolut nötig (wie aufgeheizt sie auf den Straßen ist, wird sich in den kommenden Wochen zeigen, wenn die Parteien ihre Wahlstände in den Fußgängerzonen aufbauen). Denn hier liegt auch der Unterschied zu früheren Wahlkämpfen: Er findet mittlerweile zu einem großen Teil auch im ultraschnellen digitalen Raum statt, der ein kräftiger Durchlauferhitzer für Emotionen ist; auch gefährliche.
Dabei wissen alle politischen Akteure und betonen es auch unermüdlich, dass jetzt – endlich – die Weichen bei den Megathemen der Zukunft gestellt werden müssen. Klimawandel, Digitalisierung, Einwanderung und Rente.
Darüber, wie das am besten zu tun ist, muss diskutiert, muss auch gestritten werden. Aber in einem Rahmen, der auch Erkenntnisse für diejenigen ermöglicht, die Politik am Ende betrifft. Die Wählerinnen und Wähler wollen und sollen schließlich wissen, wofür sie jemanden in das Kanzlerinnenamt wählen. Die erste Lehre aus diesen paar Wochen Wahlkampf ist, dass es diesen Rahmen bisher nicht gibt.