Noam Chomsky: Amerikas zorniger Guru
Noam Chomsky ist als Sprachwissenschaftler berühmt geworden und als harscher Kritiker der US-Außenpolitik. Beim Vortrag des 82-jährigen Globalisierungskritikers in Köln passten 1000 in den Saal, aber 2000 wollten ihn hören.
Eine Stunde vor Einlass ist auf den Treppen im Hauptgebäude der Kölner Universität kein Durchkommen mehr. Die Menschen stehen Schlange über zwei Stockwerke bis ins Foyer, wo eine Leuchttafel den Stargast des Abends verkündet: „Willkommen, Noam Chomsky“. Provokateur, Intellektueller, Ultralinker, Außenseiter – eine Legende. Türsteher sichern die Eingänge. 1000 Zuhörer passen in den Saal, über 2000 sind gekommen. Den Abgewiesenen bleibt ein Livestream im Internet.
Noam Chomsky ist als Sprachwissenschaftler berühmt geworden und als harscher Kritiker der US-Außenpolitik. Jubel empfängt den 82-Jährigen, als er die Aula betritt. Er nickt kurz, fängt sofort an. Kein Grußwort, kein Dank für die AlbertusMagnus-Professur, die ihm die Uni verliehen hat. Chomsky hat keine Zeit zu verlieren; eineinhalb Stunden lang dauert seine Abrechnung mit der Globalisierung und der Vormachtstellung der USA – eine wütende Anklage, die er frei vorträgt, ohne auch nur einmal die Stimme zu heben.
Chomsky, der Guru, ist unbequem, auch für seine Jünger. Er spricht leise, betont kaum, die Aneinanderreihung von langen Sätzen verlangt höchste Konzentration. So webt er seine Angriffe scheinbar nebensächlich ein, trägt sie höflich vor, man überhört sie beinahe. „Obama, übrigens einer der reaktionärsten Präsidenten überhaupt, lächelt immer so freundlich“, sagt er und lächelt. „Er sagt den anderen Regierungen nicht, dass sie irrelevant sind. Deshalb mögen sie ihn.“ Messerscharfe Attacken, 90 Minuten lang.
Chomsky skizziert ein Endzeitszenario: Der aktuelle „amerikanische Niedergang“ sei eine Konsequenz der US-Politik. Die rücksichtslose Durchsetzung von Wirtschaftsinteressen habe zunehmende soziale Ungleichheit zur Folge und immer mehr Hass im Ausland. Zudem führe die Weigerung der USA, den Klimawandel anzuerkennen, zu einem Risiko, das auch die Steuerzahler nicht auffangen könnten: dem Ende der menschlichen Spezies.
Immer wieder gibt es Zwischenapplaus. Wie umstritten der Theoretiker ist, wie stark seine Thesen polarisieren, bleibt ausgeblendet. Dabei erwarb sich Chomsky seine Glaubwürdigkeit gerade dadurch, dass er seinen Zorn seit einem halben Jahrhundert unbeirrt zum Ausdruck bringt, unabhängig vom Zeitgeist. Politisch aktiv wurde der 1928 in Philadelphia geborene Wissenschaftler, der schon mit 32 als Professor für Linguistik am Massachusetts Institute of Technology (MIT) lehrte, während des Vietnamkriegs. Seitdem kritisierte er sämtliche militärischen Einsätze der USA und gab George W. Bushs Politik nach 9/11 eine Mitschuld daran, dass „sie uns hassen“. Als 2001 viele an ein schnelles Ende des Kriegs gegen den Terror glaubten, fragte Chomsky: „Wie hoch wird der Preis sein für den Sieg über bin Laden und die Taliban?“
Selbstverteidigung, Stabilisierung oder humanitäre Rettungsaktion – Chomsky erkennt solche Beweggründe für Militäreinsätze nicht an. In Köln verurteilt er auch die Libyen-Intervention. „Die Erörterung individueller Absichten ist zwecklos, weil die eigentlichen Triebkräfte in den ökonomischen Interessen von Institutionen der Führungsschichten liegen“, so beschrieb die US-Autorin Larissa MacFarquhar Chomskys Weltbild im „New Yorker“. Für ihren Essay „Des Teufels Buchhalter“ hatte sie den MIT-Professor monatelang begleitet. Chomsky rechnet Tote gegeneinander auf, vergleicht scheinbar Unvergleichbares. Damit provoziert er nach wie vor. Er fragt in Köln, warum der Iran keine Atomindustrie haben dürfe, aber Israel und das repressive Regime in Saudi-Arabien sehr wohl. Weil Letztere sich an die Regeln der Amerikaner hielten?
Neben der Provokation und der Aufforderung zum Auflehnen skizziert Chomsky in Köln kaum Alternativen.„Utopia interessiert ihn nicht“, stellte MacFarquhar fest. Der Zorn sei seine einzige Antriebsfeder. Und so bleibt es bei Appellen. Wer die Entwicklung nicht stoppt, warnt Chomsky, dem bleibt nichts anderes übrig, als die Ruinen dieser Welt zu betrachten.
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