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Taliban Kämpfer an einem Checkpoint in Kabul Ende November.
© REUTERS

Zwanzig Jahre nach der Petersberger Konferenz: "Die Zivilbevölkerung darf nicht den Taliban geopfert werden"

Deutschlands erster Afghanistanbeauftragter über das Scheitern des Westens in Afghanistan und welche Konsequenz daraus zu ziehen sind.

Vor zwanzig Jahren tagte am Petersberg bei Bonn die Auftaktkonferenz der UNO zu Afghanistan. Milliardenhilfen folgten. Deutschlands erster Afghanistanbeauftragter fordert heute eine tabufreie Einsatzkritik und analysiert Fehler im Umgang mit dem im August 2021 kollabierten Staat.

Michael Schmunk ist Experte für Post-Konflikt-Gesellschaften und dysfunktionale Staaten mit den Schwerpunkten Westbalkan, Südkaukasus und Afghanistan. Er organisierte das Außenministerteam, das die UN-Resolution 1244 zum Kosovo erarbeitete, ehe er von 2000 bis 2002 die Leitung der deutschen diplomatischen Vertretung im Kosovo übernahm. Von 2002 bis 2004 war er der erste Afghanistanbeauftragte des Auswärtigen Amts, danach Botschafter in Bosnien-Herzegowina. Er absolvierte Forschungsaufenthalte in Harvard, an der SWP in Berlin und am GIGA in Hamburg.

Herr Schmunk, Sie wurden 2002 der erste Afghanistanbeauftragte des Auswärtigen Amts und haben das Land seit damals im Blick. Was passiert seit dem Kollaps des Landes diesen Sommer?
Michael Schmunk: Aktuell sind Leute wie ich als Afghanistanexperten sehr gefragt. Ich komme gerade von einer Konferenz und fahre bald zur nächsten. Der Schock des 15. August ist gewaltig, obwohl es ein Desaster mit jahrelanger Ansage war. Seitdem scharen transatlantische Organisationen hektisch erfahrene Leute um sich, auf der Suche nach Ursachen wie Perspektiven für Auslandseinsätze. Viele hatten, wie ich, damit gerechnet, dass jetzt das Ende der Engagements für Peace- und State-Building käme. Raus aus allem, nichts Neues mehr, vielleicht sogar der Abzug aus Mali.

Doch das ist nicht der Fall?
Zu meiner Überraschung wird eher rational und nüchtern argumentiert. Motto etwa: Nicht weniger Einsätze, aber anders. Einig ist man sich: Wo Menschenleben, Menschenrechte auf dem Spiel stehen, gilt es sie zu schützen. Unverändert. Das sollten Diktatoren, Autokraten und Terroristen wissen. Interventionsexzesse wie in Afghanistan darf es nicht mehr geben. Klar ist aber auch: Alles, wirklich alles, muss nun auf den Prüfstand, ohne Tabus, kreativ und realistisch.

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Bundespräsident Steinmeier sprach von „bitteren Fragen nach dem Sinn“ des Afghanistaneinsatzes, Bilanzen negieren Erfolge. Gab es gar keine?
Bis etwa 2005 gelang es, die Lebensbedingungen der Afghanen zu verbessern. Das Konzept dafür taufte der UN-Sonderbeauftragte Lakhdar Brahimi „light footprint“, sachter Fußabdruck. Für Frauen und Mädchen tat sich viel, sie gingen zur Schule, zur Uni, einige wurden Anwältinnen oder Ärztinnen. Es kam zu einem bescheidenen Mittelstand, Anfängen einer Zivilgesellschaft, die Infrastruktur holte auf, alle konnten wählen gehen. All das, obwohl der westlichen sogenannten Allianz der Willigen nicht vollends klar war: Geht es primär um Terrorbekämpfung oder um humanitären Aufbau in diesem gebeutelten, archaischen Land?

Was blieb außer Acht?
Man hätte schärfer hinsehen müssen – auf die Korruption der Kabuler Eliten, der Stammesfürsten und Warlords, auf den Opiumanbau. Loyalität mit, Respekt für die Demokratie und den Staat hätte klarer vermittelt werden müssen. Für „force protection“, das Absichern westlicher Operationen, wurde den Warlords, vor allem aus Amerika, Millionen Dollar hinterhergeworfen.

Anstatt das Geld für zivile Zwecke zu nutzen.
Ja. Von etwa 2006 bis 2014 kippte vieles ins Negative. Aus der Willkommenskultur der Afghanen für die westlichen Befreier von den Taliban entstand in der Zivilbevölkerung schleichende Abwehr. Wir wurden zunehmend als Besatzer gesehen. Zu viele unschuldige Zivilisten wurden, kollateral, wie man sagt, getötet. Uns gingen die Hearts and Minds verloren, ein fataler Paradigmenwechsel, der zu wenig registriert, zu schwach beantwortet wurde.

Wie war die Stimmung, als Sie nach Kabul kamen?
In der Bevölkerung herrschte, wie bei uns, eine fast naive Zuversicht: Jetzt ändert sich alles zum Guten! In Afghanistan war es damals so friedlich, so dass man sich reisend in Orten und Tälern einen Eindruck verschaffen und mit Politikern und Stammesfürsten reden konnte, alles war zugänglich. Von der wilden Schönheit des Landes war ich wie berauscht – sie entspricht allen positiven Klischees. Die Gespräche und Verhandlungen waren so faszinierend wie schaurig. Wir, Akteure aus fünfzig Staaten, glaubten, dass wir das Projekt Afghanistan stemmen würden. Wir glaubten tatsächlich, in Berlin, Brüssel, Washington, dass unsere Handbücher und Werkzeugkästen, die wir gut gefüllt aus Bosnien oder Kosovo mithatten, gute Konzepte und Instrumente enthielten.

Die Instrumente passten dort nicht?

Teils, teils. Bosnien und Kosovo sind kleine Länder mit zusammen fünf Millionen Einwohnern. Das zerklüftete, von Kriegen gezeichnete Afghanistan hat circa 32 Millionen Einwohner, auf viel größerem Territorium. Vom Auswärtigen Amt und dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit kamen für staatliche Institutionen sowie nicht-staatliche Projekte etwa fünf Milliarden Euro für die zivile Seite. In den 20 Jahren flossen 17,3 Milliarden Euro, davon 12,3 Euro für Militärisches. Die Ministerien mussten sich den zivilen Topf teilen. Unter meiner Leitung haben wir Arbeitskonzepte entwickelt, organisiert, Partner vor Ort identifiziert. Jeder rief „hier!“ und wollte möglichst viel, die Koordination war eine Herkulesaufgabe. Doch unsere Botschaft in Kabul und die Bundeswehr unterstützten mich nach Kräften, und die Erkenntnisse durch das Reisen boten eine Basis für die Planungen der Bundesregierung. Nach und nach gewannen sie Struktur.  

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Was für Planungen waren das?
Unter anderem setzten wir auf Provincial Reconstruction Teams, PRTs, für uns ein interventionspolitisches Novum. Die Grundidee kam aus den USA. Über Afghanistan sollte ein Netz aus rund zwanzig militärisch geschützten Stützpunkten zum Wiederaufbau gespannt werden, auch als Anlaufstellen für die Bevölkerung. Wir, die ständigen Afghanistan-Beauftragten aus USA, Frankreich, Großbritannien und Deutschland, entwarfen im Dezember 2002 am Holmenkollen in Norwegen das Grundkonzept. Unter andrem nach Konsultationen mit Parlamentariern in Berlin konnte ich ein zivileres Modell festzurren, das unserem Verständnis vom Wiederaufbau entsprach. In der Praxis ging das nicht ganz auf. Aber es schien der einzige gangbare Weg in die Fläche, auch außerhalb Kabuls.

Noch dürfen die Mädchen in Kandahar zur Schule gehen.
Noch dürfen die Mädchen in Kandahar zur Schule gehen.
© AFP

Warum ging das nicht ganz auf?
Weil vor allem die Sicherheitsbedrohung für Militärs, Diplomatie, Aufbauhilfe und Polizeitraining die Bewegungsfreiheit immer mehr einschränkte. Daneben gab es Streitereien zwischen Ressorts - das Instrument war eben neu. Einige residierten sehr passabel in den Städten. Manche unserer Leute, Militärs etwa, waren in Zelten und Baracken untergebracht. Posten, die sozusagen hinter den Bergen bei den sieben Zwergen lagen, waren komplett auf sich gestellt. Anfangs galten sie als Anlaufstelle für Wohltaten, später wurden sie zu Angriffszielen.

Wie haben sich westliche Akteure wie Sie im Land bewegt?
In den ersten Jahren war das Reisen zwar äußerst beschwerlich, da brauchte es Outdoor-Typen, aber längst nicht so gefährlich, wie später, etwa ab 2005, nach dem Einsickern islamistischer Kämpfer aus dem Irak. Wenn möglich war ich in geschützten Fahrzeugen unterwegs, teils begleitet von italienischen Carabinieri in schwarzem Drillich, die mir von ISAF, der International Security Assistance Force, zugeteilt worden waren. Mitunter war die Bundeswehr mit Helikoptern – ja, die sind geflogen! – oder Transall-Maschinen zur Stelle, wenn ich in entlegenere Täler und Winkel musste. Bei Gesprächen mit regionalen Machthabern beeindruckte die enorme Gastfreundlichkeit. Viele halten große Stücke auf Deutschland. Gäste wurden beschenkt mit braunen Pokol-Mützen, gewundenen Turbanen oder den weiten Chapan-Mänteln, die wir von Hamid Karzai kennen.

Also annehmbare Reisebedingungen?
Das wäre eine Illusion. Leicht war es mit dem kaum Hindukusch-tauglichen Gerät der westlichen Militärs nicht. Geländefahrzeuge hatten Probleme beim Durchqueren von Flüssen und im Hochgebirge, viele Straßen und Brücken waren zerstört. Doch wir wollten auch zu den entlegenen Machthabern. Es gab Fahrten über waghalsige Bergrouten und ungesicherte Abgründe. Herberge fanden wir bei kleinen und großen Warlords, oft mit klammen Matratzen und unvorstellbaren Nasszellen. Hammelgerichte aß man mit der Hand, Händewaschen war kaum möglich, heftige Infekte waren die Folge. Wieder zuhause versank ich meist wie ein Stein im Tiefschlaf. Aber die Zusammenarbeit zwischen Auswärtigem Amt und Bundeswehr funktionierte gut, auch wenn die Kultur-Symbiose zwischen ihnen Zeit und Kraft kostete. Auf internationaler Ebene ließ sich diese Erfahrung nutzen.

Waren Ihre vorigen Einsätze in Krisengebieten hilfreich?
Sicher. Ich hatte gelernt, wie man als Diplomat mit Friedenstruppen und NGOs Synergien zum Aufbau von Demokratie und Rechtsstaat schaffen kann, etwa durch Zusammenführen der komparativen Vorteile. Wichtig sind realistische politische Vorstellungen aus den Hauptstädten, und dass dort das Vorgehen grob abgestimmt ist. Wichtig sind außerdem belastbare persönliche Beziehungen zwischen Diplomatie, Militär und Hilfsorganisationen. Wenig Einfluss hat man vor Ort auf die Macht der medialen Bilder, die nach außen gehen. Sie können vieles verzerren. Umso besser war es, wenn Abgeordnete zu Sondierungsreisen kamen, und eigene Eindrücke sammeln konnten.

Hat Sie der Zusammenbruch der afghanischen Staatlichkeit überrascht?
Nicht wirklich. Es war seit langem abzusehen. Die Taliban, geringgeschätzt als mittelalterliche Krieger, hatten in Städten wie Kabul längst clever ihre Schläfer installiert, die nur auf ihren Einsatz warten mussten. Loyalität von Armee und Polizei gegenüber dem ungeliebten, korrupten Staat, war geschwunden. Patriotisch ist die Bevölkerung schon, loyal aber primär zu ihren Clans und traditionellen Eliten.

Weshalb hatte die Kenntnis all dessen keinen Alarm ausgelöst?
Den korrupten städtischen Eliten wurde nicht auf die Finger geschaut, die Finanzströme unserer Milliarden an Hilfsgeldern wurden nicht konsequent nachverfolgt. Dabei hat mich besonders die Europäische Union immer wieder enttäuscht. Warnungen vieler Expertinnen und Experten wurden schlicht in den Wind geschlagen. Überrascht bin ich dennoch von der Resilienz, dem Mut der Fragmente der neuen Zivilgesellschaft, die überlebt haben: Wir dürfen sie nicht im Stich lassen!  

Was waren die zentralen Versäumnisse?
Henry Kissinger hat es auf eine knappe Formel gebracht, als er neulich sinngemäß sagte: Die militärischen Ziele waren zu absolut, zu unerreichbar. Die politischen Ziele zu abstrakt, zu abgehoben, zu schwer in einer archaischen Gesamtgesellschaft zu verankern.

Der Brocken war zu groß?
Ja, wir hatten uns weit übernommen, ich erinnere bloß an das Tableau vom Errichten einer zweiten Schweiz im Hochgebirge Zentralasiens. Im Westbalkan gab es auch Fehleinschätzungen, aber längst nicht in derartiger Gigantomanie und Hybris wie am Hindukusch. Ich habe in Berichten oft davor gewarnt, dass wir festlegen müssen, welche roten Linien es gibt, was an sogenannter Ownership der Post-Konflikt-Gesellschaft überlassen ist, also wo sie bei ihren Gepflogenheiten bleibt.

Wo also wären nach Ihrer Auffassung konkret Eingriffe nötig?
Nur dort, wo es neutrale Hilfe von außen braucht, weil eine Gesellschaft es wegen der tiefen Wunden und Antagonismen nicht allein schafft, sollte externe Vermittlung eingesetzt werden, erst behutsam, dann, wenn nötig mit Nachdruck, etwa um Korruption einzudämmen, das State-Capturing, wenn neue Eliten sich Pfründen greifen. Auch wer in bester Absicht interveniert, muss sich Selbstbescheidung auferlegen. Post-Konflikt-Gesellschaften zu ihrem Glück zwingen zu wollen ist eine Form von Neo-Kolonialismus – selbst wenn gescheiterte Staaten eine Sicherheitsbedrohung darstellen. Viele Experten hatten übrigens gefordert: Wer reingeht, muss eine Exitstrategie auf Basis klarer Parameter und Benchmarks haben. Auch das wollte die Politik nicht hören.

Afghanische Bauern bei der Ernte des Mohns, aus dem Heroin produziert wird.
Afghanische Bauern bei der Ernte des Mohns, aus dem Heroin produziert wird.
© REUTERS

Wo würden Sie rote Linien ziehen?
Auf der Makroebene hat sich meiner Ansicht nach gezeigt, dass derartige Interventionen, zumal in so anders strukturierten Gesellschaften, beim Versuch des Transfers westlicher Werte scheitern. Mir scheint auch die Universalisierung des UN-Konzepts gescheitert, wonach es eine Verantwortung zum Schutz gibt. Das ist jetzt Teil der Realpolitik, und das Ansehen der Europäischen Union, der Demokratien hat gelitten, das des alten Westens aus der Epoche des Kalten Krieges. Es wird schwieriger werden, westliche Werte einzufordern.

Oder es braucht schlicht bessere Praxis?
Zweifellos, die Lektionen sitzen tief. Ich denke zum Beispiel an den deutschen Versuch, die afghanische Polizei zu trainieren. Wir mussten bitter erfahren, auch unter dem Spott der Partner – die nicht viel mehr zuwege brachten - dass zum Beispiel Konzepte der Polizei in Hamburg nicht zum Hindukusch passen. Nötig war nicht der Kriminalist mit dem Hightech-Tatortkoffer, sondern der robuste, eher paramilitärische Polizist, der gegen Warlords bestehen kann. Unterweisung in Rechtsstaatsprinzipien fand kaum Anklang, Schießtraining mit Schnellfeuerwaffen sehr wohl. Auch da müssen die Handbücher für Einsätze umgeschrieben werden. 

Was ist jetzt zu tun?
Wir brauchen tabufreie Einsatzkritik auf allen Ebenen. Zu leisten ist das vor allem von denen, die Expertise haben und frei sind von bürokratischem und Karrieredruck. In Amerika ist man da jetzt schon weiter als wir. Es gibt exzellente Studien, Anhörungsberichte und Analysen, wie eben erst im Journal Foreign Affairs von Rory Stewart, dem legendären britischen Kenner des Einsatzes, der Afghanistan zu Fuß durchwandert hat.

Werden Sie die deutsche Afghanistan-Aufarbeitung begleiten?
Traditionell werden deutschen Ämtern selten Vorgänger konsultiert, doch hier lernt man allmählich von der angelsächsischen Kultur, wo der Fundus von Spezialisten mit Erfahrung erfolgreich konsultiert wird.

Wie könnte künftiger Einfluss auf Afghanistan aussehen?
Man sollte nicht unter hastigem Rechtfertigungsdruck an das Regime der Taliban herantreten. Doch auf Dauer können wir uns dem Land nicht entziehen, die Verantwortung wirkt weiter, vielleicht mehr als zuvor. Einzelne Hilfsaktionen sind gut, doch gebraucht wird eine gemeinsame Strategie der demokratischen Welt. Alles andere wäre Kräfteverschwendung und unseriös. Es gilt, Informationen und Kontakte zu sammeln, gut funktionierende Botschaften und internationale Institutionen in Kabul zu installieren. Wir erkennen damit ja nur an, dass auf afghanischem Territorium so etwas wie ein Staat besteht – und wir sind in Staaten mit mindestens so schwer erträglichen Regimen präsent.

Gibt es dabei ethische Grenzen?
Als Demokratien sollten wir klar zum Ausdruck bringen, wofür wir stehen, was wir als unverzichtbar erwarten, etwa im Bereich Menschenrechte, als Erwartung, nicht als Option. Zuallererst sollten wir den neuen Machthabern abtrotzen, an humanitären Brennpunkten Versorgungspunkte für Nahrung, Medizin, Diesel, Brennholz errichten zu können. Der grimmige Winter steht vor der Tür. Die Zivilbevölkerung darf nicht den Taliban geopfert werden.

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