Coronavirus B.1.1.529 „Omikron“: Wie gefährlich ist die neue Virusvariante aus Südafrika?
Wie ansteckend ist die neue Corona-Variante? Bieten bereits verabreichte Impfungen ausreichend Schutz? Was über B.1.1.529 bekannt ist und was noch nicht.
Ist das jetzt die Virusvariante, die noch ansteckender als Delta ist? Oder gar eine, die so anders ist, dass der Impfstoff nicht mehr ausreichend schützt und angepasst, aktualisiert werden muss? Um es ganz deutlich zu sagen: Niemand kann diese entscheidenden Fragen jetzt schon abschließend beantworten.
Noch ist viel zu wenig bekannt über die in Südafrika erstmals detektierte Sars-CoV-2-Variante B.1.1.529, auch "Omikron" genannt. Aber Grund zur Sorge, zur Vorsorge, wie sie etwa Großbritannien, die USA und inzwischen auch Deutschland, Österreich, Italien, Tschechien und Malta mit Einreisebeschränkungen aus Südafrika getroffen haben, besteht durchaus. "Diese neu entdeckte Variante besorgt uns", sagte der noch amtierende Bundesgesundheitsminister Jens Spahn am Freitagmorgen. "Daher handeln wir hier pro-aktiv und frühzeitig." Das letzte, was jetzt noch fehle, sei eine "eingeschleppte neue Variante, die noch mehr Probleme macht". Bis zum Inkrafttreten der Beschränkung rief er Rückkehrer aus Südafrika dazu auf, sich freiwillig einem PCR-Test zu unterziehen und bis zum Ergebnis in Quarantäne zu begeben.
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Hauptgrund für die Besorgnis ist die Menge der Mutationen von B.1.1.529. Allein in dem Gen für das S-Protein, dem Stachel, mit dem das Virus in die Zellen gelangt, zählen die Forscher 32 Mutationen, mehr als doppelt so viele wie bei der Delta-Variante. Die schiere Zahl veränderter Erbgutbausteine (im Vergleich zum ursprünglichen Virus) allein ist aber nicht das entscheidende Maß. Seit Pandemiebeginn sind unzählige Virusvarianten entstanden, die Dutzende, Hunderte und Tausende von Mutationen zählten, doch ebenso schnell wie sie kamen, verschwanden sie auch wieder - weil sie entweder aufgrund der Fülle der Veränderungen gar nicht mehr überlebensfähig waren oder aber trotz guter Infektions- und Vermehrungsfähigkeiten keinen Überlebensvorteil gegenüber den bereits kursierenden Verwandten hatten.
Aber bei B.1.1.529 liegen einige der 32 Mutationen an Stellen, die Forscher bereits als entscheidend wichtig für die Infektiosität der Viren identifiziert haben, etwa an Position 655, 679 und 681 im Viruserbgut. Dort ist die Stelle im Gen-Bauplan des S-Proteins, wo der Stachel von menschlichen Enzymen so zurechtgeschnitten werden muss, dass das Virus in die Zellen eindringen kann.
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Je besser das funktioniert, umso eher kann sich das Virus beispielsweise schon in den oberen Atemwegen vermehren, wo die Wahrscheinlichkeit höher ist, beim nächsten Atemzug oder Husten an den nächsten Menschen übertragen zu werden. Zur erhöhten Infektiosität tragen wohl auch andere Mutationen, etwa an Position 203 und 204 im Erbgut von B.1.1.529, bei, wo der Bauplan für das „Nukleocapsid“, die Kernhülle des Virus liegt.
Darüber hinaus hat B.1.1.529 einige Mutationen, die die Viren befähigen könnten, dem Angriff von neutralisierenden Antikörpern, wie sie das Immunsystem eines Geimpften oder Genesenen zur Bekämpfung losschickt, zumindest teilweise entkommen zu können: ein sogenannter „Immune Escape“. Der Strukturbiologe James Naismith von der Universität Oxford äußerte sich am Freitag in einer Radiosendung der BBC, er sei „fast sicher“, dass die bisherigen Impfstoffe wenige effektiv vor B.1.1.529 schützen als vor den bisherigen Varianten, etwa Delta oder Beta.
Auch aus Sicht des südafrikanischen Virologen Shabir Madhi schützen herkömmliche Impfstoffe gegen die neue Corona-Variante B.1.1.529 nur bedingt. Dem TV-Sender eNCA in Johannesburg sagte er am Freitag: „Wir gehen davon aus, dass es noch einiges an Schutz gibt“, es sei aber wahrscheinlich, dass bisherige Impfstoffe weniger wirksam sein dürften.
„Da die Impfstoffe gegen alle bisherigen Varianten effizient sind, gehe ich davon aus, dass auch gegen diese Variante Impfschutz besteht“, sagt hingegen Richard Neher, Experte für Virenevolution am Biozentrum der Universität Basel. Gerade die zelluläre, also nicht auf Antikörpern, sondern T-Zellen beruhende Immunreaktion sollte seiner Einschätzung zufolge „robust“ sein. „Allerdings ist es durchaus vorstellbar, dass es [mit B.1.1.529] vermehrt zu Durchbruchsinfektionen kommt, so dass eine dritte Dosis umso wichtiger wird.“
Allerdings stützen sich diese Aussagen nicht auf Tests mit der neuen südafrikanischen Variante, sondern auf Erfahrungen mit Viren, die teilweise ähnliche Mutationen wie B.1.1.529 tragen. In Labortests mit derartig veränderten Viren waren neutralisierende Antikörper aus dem Blut von Geimpften oder Genesenen nicht mehr so wirksam wie bei anderen Coronavirusvarianten. Auch das Fehlen eines Erbgutstückchens im Abschnitt 105 bis 107 soll dazu beitragen, dass die Viren von bestimmten Abwehrreaktionen der Zellen, dem zellulären, angeborenen Immunsystem, nicht mehr so gut erkannt und bekämpft werden, was letztlich ebenfalls zur Übertragbarkeit der Viren beitragen kann.
B.1.1.529 verdrängt bereits die Delta-Variante
Dass das Verbinden all dieser Eigenschaften mit den Mutationen nicht nur molekularbiologische Kaffeesatzleserei ist, zeigen die Informationen über die Verbreitung der Variante. In der Kwazulu-Natal-Region verdrängt B.1.1.529 bereits die Delta-Variante, das heißt, sie kommt in den sequenzierten Stichproben inzwischen häufiger vor als Delta.
Ähnliches beobachten die Experten in anderen Regionen Südafrikas, und zwar mit atemberaubender Geschwindigkeit. In der Kwazulu-Natal-Region nahm der Anteil der B.1.1.529-Proben innerhalb von nur zwei Wochen von 1 Prozent Häufigkeit zu 30 Prozent zu. Am Donnerstag detektierten fast alle südafrikanischen Regionen die Variante.
Dass es sich dabei nur um einen „Gründereffekt“, also etwa das zufällige Auftreten dieser Variante bei einem oder mehreren Ausbrüchen und eine davon ausgehende massive Ausbreitung, handelt, ist eher unwahrscheinlich. Denn während Delta und vorherige Virusmutanten viele Wochen brauchten, um die vorherrschende Variante zu werden, hat sich B.1.1.529 binnen 14 Tagen an die Spitze der Infektionsstatistiken katapultiert.
Das bedeutet, ersten Abschätzungen zufolge könnte B.1.1.529 gegenüber der ursprünglichen Variante einen 500-prozentigen Infektionsvorteil haben, Delta hat einen 70-prozentigen. Die Variante ist auch schon außerhalb Südafrikas aufgetaucht, etwa in Hongkong, eingeschleppt durch einen Reisenden, der in seinem Hotel einen weiteren Menschen ansteckte, wie Untersuchungen der dortigen Behörden ergaben. Auch Israel meldet bereits den Fall eines aus Malawi eingereisten Passagiers.
Der erste B.1.1.529-Fall in Europa wurde in Belgien entdeckt. Das gab der belgische Gesundheitsminister Frank Vendenbroucke am Freitagnachmittag bekannt. Am Samstag dann ließ die hessische Landesregierung verlauten, dass die Variante "mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit" auch Deutschland erreicht habe. Wie der hessische Sozialminister Kai Klose mitteilte, wurden bei einem Reiserückkehrer aus Südafrika in der Nacht zuvor mehrere für die Omikron-Variante typische Mutationen gefunden. "Es besteht also ein hochgradiger Verdacht", schrieb der Grünen-Politiker auf Twitter. Der Betroffene sei häuslich isoliert worden.
Auch in Tschechien besteht der Verdacht, dass die Omikron-Variante des Coronavirus aufgetreten ist.
Weltweit haben Dutzende Länder wegen der neuen Coronavirus-Variante Alarm geschlagen. Zahlreiche Staaten beschlossen am Freitag, sich mit weitgehenden Flug- und Einreiseverboten sowie neuen Quarantänevorschriften gegen eine Einschleppung aus dem Süden Afrikas zu wappnen. Die Weltgesundheitsorganisation WHO stufte die Variante als besorgniserregend ein und gab ihr den Namen "Omikron".
Neue Virusvariante liefert genug Argumente für Reisebeschränkungen
Hinreichende Argumente für rasche Reisebeschränkungen gibt es mithin auf jeden Fall – vor allem vor dem Hintergrund der, schlechten, Erfahrungen mit der Ausbreitung der Delta-Variante, deren Eindämmung nicht zuletzt durch zu späte Grenzkontrollen misslang.
Ob die Variante allerdings auch zu einem aggressiveren Krankheitsverlauf führt, häufigeren schweren Erkrankungen und gar mehr Todesfällen, ist bislang, schlicht aufgrund fehlender Informationen, nicht abzusehen. Die Lehre aus den Erfahrungen mit Delta ist aber, dass allein schon eine sehr viel infektiösere Variante die Häufigkeit schwerer Erkrankungen erhöht. Denn wenn mehr Menschen infiziert werden, können auch mehr erkranken.
Wichtig zu betonen ist, dass diese Variante auch immer noch verschwinden kann. Die absoluten Zahlen an Infizierten mit B.1.1.529 ist in Südafrika immer noch gering im Vergleich zu Delta. Aber allein das Szenario, in dem diese Variante jetzt aufgetreten ist, ist Grund zur Sorge, überraschen sollte es aber niemanden: In Südafrika sind noch immer 75 Prozent der Bevölkerung nicht geimpft, auch weil dort Impfstoff fehlt, den die reichen Länder etwa der EU nach wie vor nicht in ausreichendem Maße zur Verfügung stellen, wie es die Weltgesundheitsorganisation WHO seit Monaten beklagt.
Das ist der Nährboden, auf dem diese Varianten entstehen, denn jede einzelne Infektion eines Menschen gibt dem Virus bei der Vermehrung millionenfache Gelegenheiten, neue Mutationen zu generieren. Und in Südafrika kommt hinzu, dass es viele HIV-infizierte Menschen gibt, deren Immunsystem geschwächt ist, wenn sie ihre antiviralen Medikamente nicht regelmäßig nehmen können. In solchen immungeschwächten Patienten können die Viren mehr Mutationen anhäufen, weil der Körper ihrer Vermehrung weniger entgegenzusetzen hat, vermuten Experten.
Die Wissenschaftlerin Susan Hopkins vom Imperial College in London bezeichnete die neue Variante als „die besorgniserregendste, die wir je gesehen haben“. Die in Südafrika bislang festgestellte Übertragungsrate (R-Wert) liege bei 2. Noch seien mehr Daten notwendig, um zu einer abschließenden Bewertung zu kommen. Ein erneuter Anstieg von Infektionen in einem stark durchseuchten Land wie Südafrika lege jedoch nahe, dass dafür zumindest teilweise neue Variationen verantwortlich zu machen seien, fuhr Hopkins fort. Sollte sich eine höhere Übertragbarkeit bewahrheiten, würde die Variante „ein massives Problem“. (mit smc/dpa)
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