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Großbritannien wählt: Die wichtigsten Fragen und Antworten zur Wahl

Wie eng ist das Rennen? Was erwarten die Parteien? Welche Rolle spielt das Wahlsystem? Ein Leitfaden für die Wahl in Großbritannien.

 

Eigentlich hätten die Briten erst wieder im Jahr 2020 wählen sollen. Aber Premierministerin Theresa May ignorierte, dass erst vor einigen Jahren die Wahlperiode von fünf Jahren gesetzlich fixiert worden war und setzte im Unterhaus die vorgezogene Wahl an diesem Donnerstag durch. Der eine Grund: May will wegen der Brexit-Verhandlungen mit der Europäischen Union eine von Wahlkämpfen und Wahlen ungestörte Spanne von fünf Jahren. Der andere: Sie hofft darauf, durch einen deutlichen Sieg ihre Position zu stärken, weniger gegenüber Brüssel und den EU-Partnern, sondern vor allem in ihrer eigenen Konservativen Partei.

Zwar dominiert die Premierministerin seit ihrem Amtsantritt nach dem EU-Referendum vor einem Jahr die britische Politik. Aber die Mehrheit der Tories von 330 der 650 Sitze im Unterhaus ist recht knapp. Mit einem dickeren Polster glaubt May besser durch die nächsten Jahre zu kommen. Der Brexit spielte im Wahlkampf nicht die große Rolle. Statt dessen ging es auch den Nationalen Gesundheitsdienst (wie immer in der Krise), um Sozialpolitik und Renten, um die Zukunft der Schulen und nach den Anschlägen von Manchester und London immer stärker um innere Sicherheit und den Kampf gegen den Terror., die May

Was sagen die Umfragen?

Umfragen sind in Großbritannien seit einigen Jahren mit besonderer Vorsicht zu genießen. Weder das Ergebnis der Unterhauswahl von 2015 noch den Ausgang des EU-Referendums vor einem Jahr zeichnete sich deutlich in den Erhebungen ab. Man muss sie (noch mehr als die Projektionen des „Politbarometers“ der Forschungsgruppe Wahlen bei uns) als tagesgebundene  Stimmungsbilder nehmen, die bisweilen deutlich voneinander abweichen. Auch in den Tagen vor der Wahl, in denen offenbar sehr viele Wähler noch nicht endgültig entschieden waren. So sahen zwei Institute wenige TAge vor der Wahl ein knappes Rennen zwischen Konservativen und Labour: YouGov mit 42 zu 38 Prozent, Survation mit 40 zu 39. Dagegen ergab eine ICM-Erhebung ein Verhältnis von 46 zu 34 Prozent, Comres landete bei 44 zu 34 und Opinium vermeldete ein Verhältnis von 43 zu 36. Ipsos-Mori prognostizierte am Donnerstag 44 Prozent für Mays Partei, 36 Prozent für Labour. Alles in allem deuten die Zahlen und die Schätzungen von Wahlforschern auf einen Sieg der Konservativen hin. Wie auch die Quoten der Wettbüros. Die Wahlprognostiker von "Electoral Calculus" haben aus dem Schnitt der letzten Umfragen errechnet, dass Mays Konservative auf 358 Sitze kommen (bisher 330) und Labour auf 218 Mandate (2015 errang die Partei 232 Sitze). Bei 650 Abgeordneten im Unterhaus hätten die Tories also eine ordentliche Mehrheit, aber wären weit unter den Erwartungen zu Beginn des Wahlkampfes.

Worauf kommt es an im britischen Wahlsystem?

Dabei geht es in Großbritannien gar nicht so sehr um die Anteile an den Stimmen als um die Sitze. Das Mehrheitswahlsystem, in dem nur Wahlkreissieger ins Unterhaus einziehen, bringt das mit sich. Entscheidend für den Gewinn der Mehrheit im Parlament ist nicht, ob eine Partei in ihren Hochburgen noch hinzugewinnt oder in den Diaspora-Regionen besser abschneidet als üblich. 650 Wahlkreise hat Großbritannien insgesamt. Die Mehrzahl ist nicht umstritten, weil eine Partei dominiert, in manchen gibt es praktisch keinen echten Wahlkampf. Entscheidend sind vor allem die „marginals“, die Wahlkreise, in denen keine Partei deutlich vorn liegt, die kippen können, in denen zwei oder sogar drei Parteien die Chance haben, als Gewinner „alles mitzunehmen“ – „the winner takes it all“. Ben Page vom Meinungsforschungsinstitut Ipsos-Mori sagt: „Es geht allein um die etwa hundert Wahlkreise, die in andere Hände übergehen können. Es geht nicht darum, wie die Tories in Chelsea abschneiden oder Labour in South Shields.“

Wie gingen die Konservativen die Wahl an?

Um einen klaren Wahlsieg zu landen, haben sich Mays Konservative ganz gezielt über den Norden Englands, die Midlands und Wales hergemacht. Und dort vor allem Wahlkreise stärker beworben, in denen bisher zwar Labour vorne lag, aber beim EU-Referendum vor einem Jahr die Austrittsbefürworter eine Mehrheit hatten. Schon bei den Kommunalwahlen Anfang Mai legten sie in diesen Regionen deutlich zu. Das Ziel: Stimmen aus der Arbeiterschaft und der Angestelltenschicht, also von „kleinen Leuten“, zu gewinnen. Solche Wahlkreise lagen in Städten wie Hartlepool, Halifax oder Middlesbrough im Norden, Stoke-on-Trent, Walsall oder Birmingham in den Midlands. Eines der Ziele war zum Beispiel auch Edgbaston, der Wahlkreis von Gisela Stuart, der deutschstämmigen Labour-Abgeordneten, die an vorderster Front in der Pro-Brexit-Kampagne stand – und damit möglicherweise den Verlust ihres Wahlkreises eingeleitet hat, weil sie frühere Labour-Wähler praktisch zu den Tories lotste, die einen härteren Brexit propagieren als Labour. Stuart selbst tritt nicht mehr an. Ansonsten setzten die konservativen Wahlstrategen um May (sie konzipierte den Wahlkampf mit ihrem engeren Kreis) ganz darauf, dass die guten Umfragewerte der Partei (zwischenzeitlich mehr als 50 Prozent) und vor allem die der Regierungschefin als dominante nationale Figur sich halten würden. May wurde groß herausgestellt, der Parteiname stand nur klein auf den Plakaten. Zuletzt allerdings brachen die Umfragewerte ein, Mays Wahlkampf verlief weniger souverän als geplant. Sie machte Fehler – eine stärkere Beteiligung der Familien von Demenzkranken an den Kosten etwa, von der Opposition schnell „Demenzsteuer“ genannt, nahm sie flugs zurück statt sie offensiv zu verteidigen. Zudem geriet sie nach dem Londoner Anschlag am vorigen Wochenende in die Kritik, weil sie als Innenministerin nach 2010 die Zahl der Polizisten gekürzt hatte. Ihre Fernsehauftritte verliefen teils unglücklich. Je geringer die Mehrheit sein wird, umso mehr ist davon auszugehen, dass die Parteirechte und die Brexit-Hardliner um Außenminister Boris Johnson die Führungsrolle der Chefin anfechten werden

Wie kam Labour durch den Wahlkampf?

Der Labour Party  ging es angesichts der Tory-Attacken im Norden und in den Midlands vor allem darum, die Kernwählerschaft in den Metropolen zu halten. Seit Schottland 2015 an die Schottische Nationalpartei verloren ging, ist die englische Anhängerschaft noch wichtiger geworden. In London, rund um Liverpool und Manchester sowie in Wales scheint das Vorhaben gelungen zu sein. Parteichef Jeremy Corbyn hat in jedem Fall gewonnen. Seine Partei wird aller Voraussicht nach nicht in dem Maße abschmieren, wie es zu Beginn des Wahlkampfes erschien.  25 Prozent waren es da in den Umfragen, und der Parteichef galt als Stimmentöter. Doch Corbyn schlug sich besser als erwartet, auch weil es ihm wohl gelungen ist, als eine Art britischer Bernie Sanders Jungwähler zu mobilisieren. Der 67-jährige Altlinke begann den Wahlkampf mit verkniffenem Gesicht, zuletzt wirkte er eher entspannt. Im Gegensatz zu May legten seien Zustimmungswerte während des Wahlkampfes zu. Corbyn macht einen traditionellen Gerechtigkeitswahlkampf (Slogan: "for the many, not the few"), sagte nicht viel Detailliertes zum Brexit (wie May übrigens auch) und vermied es, seine bisweilen randständigen Meinungen aus früheren Zeiten zu wiederholen. So wird er in die Geschichte eingehen als der Linke, der Labour vor dem Ertrinken bewahrt hat. Nun geht es in den kommenden Jahren darum, aus den Resten des New-Labour-Projekts von Tony Blair, dem alten Gewerkschafts-Traditionalismus und der jungen außerparlamentarischen Momentum-Bewegung (Corbyns Unterstützertruppe) eine Labour-Partei zu schaffen, die wieder mehrheitsfähig wird.  Ob Corbyn dafür der richtige Parteiführer ist, wird sich zeigen – denn die wahlentscheidende Mitte erreicht er nicht.

Ein Wahllokal in Congleton.
Ein Wahllokal in Congleton.
© Paul Childs/Reuters

Können die Liberaldemokraten punkten?

Dass Corbyn besser abschneidet als gedacht, mag auch damit zu tun haben, dass manche Wähler der Liberaldemokraten aus der starken Phase der Partei vor 2015 zu Labour zurückgekehrt sind (so wie einige auch wieder zu den Tories gingen). Die Rückkehr zum Zwei-Parteien-System, die sich in diesem Wahlkampf angedeutet hat, lässt die sozialliberale Mittepartei sozusagen zwischen den Stühlen zurück. Die „LibDems“ mit ihrem Parteichef Tim Farron setzten vor allem darauf, dass EU-Anhänger ihnen ihre Stimme geben würden. Freilich spaltet der Brexit die Gesellschaft nicht mehr in dem Maße, wie es vor einem Jahr der Fall war. Die Hälfte der Austrittsgegner von damals hat sich mit der Entscheidung zum Verlassen der EU arrangiert. Das Wählerpotenzial der Liberaldemokraten ist auch kleiner geworden, weil vor allem Linksliberale ihnen nachtragen, dass sie in der Koalition mit den Konservativen zwischen 2010 und 2015 zu wenig eigenständiges Profil zeigten. Unter Jungen verloren sie massiv, weil sie damals der Erhöhung der Studiengebühren zustimmten (die Corbyn zurücknehmen will). Für Farron, erst seit 2015 im Amt, war die Zeit zu kurz, der Partei ein neues innenpolitisches Image zu geben. Das Fähnlein der neun Abgeordneten könnte daher angesichts von Umfragewerten zwischen sechs bis neun Prozent weiter schrumpfen. Für die Liberaldemokraten geht es um die parlamentarische Existenz, weshalb Farron in aussichtsreichen Wahlkreisen Labour-Wähler bat, taktisch abzustimmen und seiner Partei zu wählen. Ein Plus an Mandaten wäre eine Überraschung (die man angesichts der Unentschiedenheit der Wähler und er Unwägbarkeit des Wahlsystems aber nicht ausschließen sollte).

Premierministerin Theresa May und ihr Mann Philip wählten in Sonning.
Premierministerin Theresa May und ihr Mann Philip wählten in Sonning.
© Ben Stansall/AFP

Spielt die rechtspopulistische Ukip noch eine Rolle?

Die Gründe für das Abtauchen der United Kingdom Independence Party, der rechtspopulistischen Europa-Hasser-Partei? Ganz einfach. Der neue Parteichef Paul Nuttall ist nicht Nigel Farage, der jahrelang das Gesicht der nationalistischen Anti-Europäer war. Und „Brexit means Brexit“, der von May unermüdlich vorgetragene Slogan, der deutlich machen sollte, dass die Tories den Ausstieg wahrmachen, zog moderatere Wähler weg von Ukip. In den Umfragen lag die Partei, die vor allem in England auftritt, zuletzt bei fünf Prozent. Ukip hat, immer eine Ein-Thema-Partei, nach dem EU-Referendum die politische Berechtigung verloren. Was blieb, ist eine Partei für mehr oder weniger rechtsradikale England-Nationalisten ohne Aussicht auf Sitze im Parlament. Bei den Kommunalwahlen Anfang Mai verlor sie alle Mandate. Ukip war besonders stark in der Unterschicht und bei kleinen Selbständigen. Ein Teil dieser Wähler geht jetzt zu den Tories, ein Teil zurück zu Labour. Im Wahlkampf trat Ukip als eine Art Hilfstruppe für die Konservativen auf, weil die Partei in Wahlkreisen nicht antrat, in denen die Tories erklärte Europa-Gegner aufgestellt hatten. Was nicht unbedingt als Hilfe für May zu verstehen ist, deren Wahlziel es keineswegs ist, den Flügel der Brexiut-Hardliner in ihrer Fraktion zu stärken.

Labour-Chef Jeremy Corbyn vor seinem Wahllokal in Islington/London.
Labour-Chef Jeremy Corbyn vor seinem Wahllokal in Islington/London.
© Daniel Leal-Olivas/AFP

Was bedeutet die Wahl für Schottland?

In Schottland geht es um ein Thema, das im Wahlkampf eher unterspielt wurde: die Unabhängigkeit. Nicola Sturgeon, Chefin der von der Schottischen Nationalpartei (SNP) gestellten Regionalregierung, hat nämlich ein Problem damit. Sie will unbedingt ein zweites Unabhängigkeitsreferendum, in einigen Jahren, selbst wenn es nur dazu führt, noch mehr Autonomierechte für die Region zu erstreiten. Ein schlechtes Abschneiden an diesem Donnerstag aber könnte als erstes Schwächeln der SNP gedeutet werden, als Beginn des Abstiegs, als Votum gegen das Referendum (ein erstes verloren die Separatisten 2014 knapp). Da Sturgeons Partei aber bei der Unterhauswahl 2015 einen grandiosen Sieg eingefahren hatte – 50 Prozent der Stimmen und 56 der 57 schottischen Mandate -, kann sie eigentlich nur verlieren. Daher die Zurückhaltung beim Thema Referendum – es soll nicht vergiftet werden. Mays Konservative dagegen hoffen, einige Wahlkreise zu gewinnen, in denen die Befürworter der britischen Union stark sind – im Süden Schottlands und im Nordosten -, um sich dadurch als zweite Kraft im hohen Norden zu etablieren. Das war bisher Labour, doch sieht es aktuell mau aus, was Mandate betrifft.

Haben die Grünen eine Chance?

Die Green Party hat es nicht leicht auf der Insel mit dem vielen Grün. Es hat in Großbritannien nie eine richtige Öko-Bewegung gegeben. So sind die Grünen eine kleine Akademiker- und Studenten-Partei geblieben, die außerhalb von Uni-Städten praktisch nichts zu melden hat. Vielleicht gibt es hier und dort kleine Überraschungen, auch weil die Grünen-Chefin Caroline Lucas in der Spitzenkandidatenrunde in der BBC vor einer Woche die beste Vorstellung gegeben hat – aber mehr nicht. Lucas wird ihr Mandat in Brighton wohl verteidigen können, weil Labour keinen Kandidaten gegen sie aufgestellt hat. Dafür haben die Grünen das in Dutzenden Wahlkreisen für Labour getan, im Sinne einer „progressiven Allianz“, womit sie ihre Überflüssigkeit in einem Mehrheitswahlsystem selbst bekundeten.

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