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Die Gewalttat in Chemnitz hatte eine Reihe ausländerfeindlicher Demonstrationen ausgelöst.
© Ralf Hirschberger / dpa

Haftbefehl von Chemnitz: Die Veröffentlichung von Justizdokumenten ist nicht immer ein Skandal

Wer einen Gerichtsbeschluss ins Netz stellt, macht sich schnell strafbar. Doch das Gesetz geht hier zu weit. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Jost Müller-Neuhof

Wenn Skandal nach Skandal ausgerufen wird, geht der Blick für wirklich Anstößiges verloren. Zum erschreckenden Geschehen in Chemnitz kam jetzt noch die Meldung hinzu, dass Rechte das Original des Haftbefehls gegen einen der beiden Messerstecher durch die sozialen Netzwerke jagten. Ein Justizbeamter hatte das Papier wohl heimlich abfotografiert und verbreitet. Von einem Justizskandal war die Rede und, wie oft derzeit, von einem Rechtsstaatsversagen.

Das Drama ist, dass ein Klischee bestätigt wird

Das Drama daran ist, dass der Vorgang das Klischee vom latent pegidatreuen sächsischen Staatsbeamten ein weiteres Mal bestätigt. Ein anderes Motiv, als dem Tatverdächtigen zu schaden und Hassgefühle auszulösen, ist für die Tat schlecht vorstellbar. So durfte dort jeder dessen Namen lesen, dass es sich um einen Ausländer handelt, dass die Stiche Herzbeutel und Lunge des Opfers geöffnet hätten. Damit liegt Tötungsvorsatz nah. Groß war der Informationswert nicht, schließlich war bekannt, dass wegen Totschlags ermittelt wird. Dass der Mann nun auch noch über seinen Anwalt verbreiten lässt, er habe den aus seiner Sicht falschen Medienberichten die Wahrheit gegenüberstellen wollen, zeigt, aus welcher Überzeugung er handelte.

Die Vorschrift soll vor einer Vorverurteilung schützen

Die Veröffentlichung ist eine Schweinerei. Warum? Weil sie den Beschuldigten identifizierbar macht und Zeugen nennt. Der mutmaßliche Täter wird der öffentlichen Wut preisgegeben, die Zeugen müssen fürchten, dass man sie unter Druck setzt. Gegen den Justizmitarbeiter und weitere Verdächtige, die die Kopie in den Netzwerken teilten, wird ermittelt. Paragraf 353d des Strafgesetzbuches verbietet, Verfahrensdokumente im Wortlaut zu veröffentlichen, solange sie nicht in der Hauptverhandlung erörtert wurden. Um Anonymität geht es nicht. Die Vorschrift soll die Unbefangenheit von Zeugen oder Schöffen sicherstellen. Sie soll Beschuldigte vor der Vorverurteilung schützen. Löbliche Ziele. Wird sie Ihnen gerecht?

Was war bei den Kudamm-Rasern los?

Im Chemnitzer Fall: ja. In anderen Konstellationen kommen Zweifel. Gerade hat das Berliner Landgericht die Richter im Prozess gegen die Ku’damm-Raser für befangen erklärt. Wer den Beschluss ins Netz stellt oder im Wortlaut in die Zeitung schreibt, macht sich ebenfalls strafbar. Doch warum? Zeugen werden keine beeinflusst, die Angeklagten sind nur ein Randaspekt. Dagegen gibt es ein erhebliches öffentliches Interesse. Selten, dass Richter ihren Kolleginnen und Kollegen derart einen vor den Latz knallen. Dann auch noch in einem hoch umstrittenen Verfahren und ausgerechnet von jenem Richter, der das später vom Bundesgerichtshof aufgehobene Mordurteil produziert hat. Hier darf, hier muss man mehr wissen. Am besten im Wortlaut.

Der Staat muss sein Handeln transparent machen. Auch die Justiz. Der Gesetzgeber sollte klarstellen, dass manche Fälle Strafe verdienen. Andere aber nicht.

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