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Grundgesetz, hilf. Szene einer Anti-Corona-Maßnahmen-Demo in Köln.
© Geisler-Fotopress

Grundgesetz-Ausgabe jetzt auch am Aluhut: Die Verfassung darf nicht als Abwehrecht von Ich-Lingen missbraucht werden

Die Verfassung stärkt die Bürger und bindet den Staat. Letzteres vergessen viele Anti-Lockdown-Demonstranten - wie auch der mächtige BND. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Jost Müller-Neuhof

Als vor einem Jahr am 23. Mai mit allerlei Brimborium der 70. Jahrestag der Grundgesetzverkündung begangen wurde, konnte niemand ahnen, wie die Grundrechte politische Diskussionen in ihrem neuen Lebensjahrzehnt prägen würden. Gerade in rechteren Kreisen, denen sie sonst suspekt sind.

Religionsfreiheit? Damit nerven Muslime. Asylrecht? Massenmissbrauch. Gleichberechtigung? Gendergaga. Immerhin die Meinungsfreiheit kommt hier zu Ehren, vornehmlich wenn es darum geht, gegen Löschpraktiken von Internet-Plattformen zu Felde zu ziehen. Man wird ja wohl noch sagen dürfen...

Manche Grundgesetz-Ausgabe steckt jetzt am Aluhut

Wird man. Zum 71. Jahrestag sind die Grundrechte aus den Höhen staatstragender Eliten tief unten bei den Bürgerinnen und Bürgern angekommen. Sie bilden das politische Gegengewicht zu Lockdown oder allzu langsamen Lockerungen. Ihre vielstimmige und wehklagende Anrufung soll zeigen, wie weit es mit der Demokratie gekommen, wie tief das Land gesunken ist. Manch Grundgesetz-Ausgabe steckt jetzt am Aluhut oder wird auf Demos hochgehalten.

Zum 71. herrscht offenbar Grundrechte-Konfusion. Nicht nur wegen Corona. Verwirrt zeigt sich zum Beispiel der Chef einer Behörde, deren Budget wegen der ihr zugeschriebenen Bedeutung in den vergangenen zehn Jahren verdoppelt wurde.

Neu, sagt Bruno Kahl, sei für ihn, dass Grundrechte ab sofort im Ausland gelten sollen. So urteilte jetzt das Bundesverfassungsgericht und verwarf Gesetze, mit denen Kahls Bundesnachrichtendienst (BND) im Internet auf Datenfang geht. Begründung: Die Verfassung reiche über die deutschen Grenzen hinaus, und das Fernmeldegeheimnis – auch so ein Grundrecht – schütze dort Ausländer, die mit Ausländern chatten.

Ein tiefer Fall aus der Datenwolke

„Neu“, sagt Kahl dazu trocken. Sein Vorgänger Gerhard Schindler hatte in dieser Ansicht sogar „Rechtsimperialismus“ erkannt. Deutsche Grundrechte mit Weltgeltung? Mit dem Urteil wird man im BND aus allen Datenwolken gefallen sein.

Dabei hat das Verfassungsgericht nur einen Kernsatz aufpoliert, den neben den vielen neuen Grundrechthabern auf Corona-Demos auch der BND übersehen hatte. Artikel 1 Absatz 3: Die Grundrechte binden die vollziehende Gewalt als unmittelbar geltendes Recht.

Grundrechte sind demnach keine Rechte von lauter Ichlingen, denen irgendwas über die Hutschnur geht. Sie verpflichten, über ihre Funktion als individuelle Abwehrrechte hinaus, eine Gemeinschaft als ganze. Bereits die Zumutungen des Lockdown erfolgten in ihrem Namen – und nicht erst die Proteste dagegen.

Den Grundrechten geht es deshalb gut in ihrem 71. Jahr, trotz Corona. Gefahr droht ihnen von jenen, die sie für ihre Absichten verzwecken und aus ihrem Kontext lösen. Wer zu viel von ihnen spricht, macht sich verdächtig. Wer sie anderen abspricht, ist es ohnehin.

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