100.000 Spritzen pro Stunde: Die Türkei impft sich an die Spitze
Mit den Impfungen geht es in der Türkei schneller als in den meisten anderen Ländern - das liegt auch an der weitgehenden Digitalisierung des Landes.
Ersin reibt sich den Oberarm und strahlt über das ganze Gesicht. „Das ging ja ruckzuck“, sagt er. Eigentlich hatte der 30-jährige Arbeiter nur auf Verdacht bei den Zelten vorbeigeschaut, die auf einem Parkplatz neben dem staatlichen Krankenhaus in seinem Wohnbezirk Istinye in Istanbul aufgebaut sind – er wollte seinen freien Tag nutzen, um sich nach einem Termin erkundigen.
Doch bevor er sich versah, war er registriert und stand mit aufgerolltem Ärmel vor der Krankenschwester. Fast zeitgleich mit dem Pikser in den Arm kam der Ping auf seinem Handy, der die Eintragung seiner ersten Dosis Biontech auf der staatlichen Gesundheits-App meldete.
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In den Zelten neben der Klinik laufen die Impfungen im Minutentakt. Noch vor einigen Wochen benutzte das Krankenhaus nur ein einziges Zimmer als Impfraum, doch das reichte angesichts des Andrangs nicht mehr aus. Schon während der normalen Arbeitszeit am Vormittag bilden sich Schlangen vor den Zelten.
Wer einen Termin hat, füllt einen Zettel aus, stellt sich an und kommt nach kurzer Wartezeit an die Reihe. Auch Impfwillige wie Ersin, die keinen Termin haben, werden drangenommen. Wie in Istinye geht es im ganzen Land. Das Gesundheitsministerium meldet in diesen Tagen mehr als 100.000 Impfungen pro Stunde.
Zwischenzeitlich war die Türkei sogar Impf-Weltmeister: In der Woche vom 14. bis zum 20. Juni wurden laut Gesundheitsminister Fahrettin Koca fast 7,8 Millionen Dosen verabreicht. Nach Aufstellung der Statistik-Website „Our World in Data“ impfte die Türkei in diesem Zeitraum mehr Menschen als jedes andere Land. Inzwischen hat China die Spitzenposition inne, die Türkei liegt beim Impftempo vor Deutschland auf Platz zwei. Bei der Zahl der bisher verimpften Dosen hingegen liegt Deutschland weiterhin vor der Türkei.
Möglich ist der Erfolg, weil die Türkei die Nachschubprobleme beim Impfstoff gelöst hat, die ihre Kampagne im Frühjahr über längere Zeit aufhielten. Anfang des Jahres hatte sich Ankara ganz auf den chinesischen Impfstoff Sinovac verlassen und erst später auch Biontech dazu bestellt.
Dann hielt China jedoch 100 Millionen zugesagte Dosen zurück, um sie im eigenen Land zu verimpfen. Minister Koca bereitete seine Landsleute deshalb auf erhebliche Verzögerungen vor. Der türkischstämmige Biontech-Chef Ugur Sahin wurde zum Retter in der Not und sagte im April kurzfristig die Lieferung von 30 Millionen Dosen zu. Bisher sind nach Regierungsangaben seit Jahresbeginn 24,5 Millionen Dosen Biontech und 34 Millionen Dosen Sinovac in der Türkei angekommen.
Ab Freitag gibt es keine Priorisierung mehr
Davon hat die Türkei 45 Millionen Dosen an ihre Bewohner verteilt, 18 Prozent der Bevölkerung in dem Land mit 84 Millionen Menschen sind vollständig geimpft. Damit liegt die Türkei zwar hinter von der Einwohnerzahl her vergleichbaren Ländern wie Deutschland, holt aber auf. Das türkische Gesundheitssystem kann jetzt seine Stärken ausspielen. Die weitgehende Digitalisierung und die vielen gut ausgebildeten Ärzte, Krankenschwester und Pfleger erlauben eine schnelle Terminvergabe. Nun kann sogar laut Koca morgens ein Termin für denselben Tag gebucht werden. Bisher waren alle Einwohner über 25 Jahre berechtigt – ab diesem Freitag wird die Impf-Priorisierung aufgehoben. Jeder ab 18 kann sich dann impfen lassen.
Der Aufbau eines leistungsfähigen Gesundheitssystems ist eine der wichtigsten Errungenschaften der AKP-Regierung und hat Präsident Recep Tayyip Erdogan in den vergangenen 19 Jahren zu vielen Wahlerfolgen verholfen. Manipulationen bei den Corona-Infektionszahlen im vergangenen Jahr, mit denen Ankara das Ausmaß der Erkrankungen mit Rücksicht auf den Tourismus verschleierte, kosteten Erdogan deshalb viele Sympathien. Umso mehr bemüht sich die Regierung nun, den neuen Schwung in der Impfkampagne anzupreisen.
Vor einigen Tagen gab Erdogan zudem den Beginn abschließender Versuche mit einem türkischen Impfpräparat namens Turkovac bekannt. Einer der Wissenschaftler, die Turkovac an der ErciyesUniversität im zentralanatolischen Kayseri entwickelt haben, ließ sich vor laufenden Kameras impfen. Über die Wirksamkeit von Turkovac ist allerdings noch nichts bekannt.