Wahlen in der Türkei: Die Türkei hat Alternativen zu Erdogan
Als Präsident Erdogan vorgezogene Wahlen ankündigte, sah es nach einem klaren Sieg aus. Doch viele Türken wollen den Wechsel. Das Land steht vor schwierigen Zeiten. Ein Kommentar.
Unabhängig vom Ergebnis der türkischen Wahlen am heutigen Sonntag steht das Land vor schwierigen Zeiten. Innenpolitisch könnte ein Dauerstreit zwischen Präsident und Parlament beginnen – mit der Möglichkeit abermaliger Neuwahlen in ein paar Monaten.
Die Wirtschaft steht vor einer schweren Krise. In der Außenpolitik hat sich das Land tief in regionale Konflikte verstrickt – türkische Truppen stehen in Syrien und im Irak – und entfernt sich von seinen traditionellen Partnern im Westen.
So hatte sich Präsident Erdogan das alles nicht vorgestellt. Als er die vorgezogenen Neuwahlen im April ankündigte, ging er von einem klaren Sieg aus, der ihm unter dem neuen Präsidialsystem ein leichtes Regieren ohne Widerstände ermöglichen werde.
So spannend wie schon lange nicht mehr
Doch die vergangenen zwei Monate haben gezeigt, dass viele Türken einen Wechsel wollen – und dass die lange Zeit völlig dysfunktionale Opposition durchaus Alternativen zu bieten hat. Deshalb wird diese türkische Wahl so spannend wie schon lange nicht mehr.
Den Umfragen zufolge ist eine Machtteilung in Ankara das wahrscheinlichste Resultat: Erdogan bleibt zwar im Präsidentenpalast, doch im Parlament muss er mit starken Gegenkräften zurechtkommen. Eine solche Konstellation erfordert Kompromissbereitschaft, die nicht zu den Stärken des 64-jährigen Staatschefs zählt.
Dass Erdogans Macht wackelt, hat viel mit der Wirtschaftslage und der aktiven Opposition, aber noch mehr mit einer Veränderung bei den türkischen Wählern zu tun. Der Präsident galt vielen lange Zeit als Garant des Aufschwungs. Heute wünschen sich Teile der Wählerschaft neue Gesichter in Ankara, auch wenn Millionen Türken nach wie vor zu ihm stehen.
Wirtschaftliche Probleme, politische Instabilität
Politische Stabilität, das größte Versprechen Erdogans mit Blick auf das Präsidialsystem, wird es also möglicherweise nicht geben. Dabei wäre sie gerade jetzt besonders wichtig. Die türkische Wirtschaft verlässt sich auf Investoren, die derzeit ihr Geld aus Schwellenländern wie der Türkei abziehen.
Erdogans Einmischung in die Arbeit der Zentralbank hat die Anleger zusätzlich verunsichert. Der drastische Kursverfall der Lira wirft die Frage auf, wie türkische Unternehmen ihre Schulden von insgesamt rund 200 Milliarden Dollar bezahlen sollen.
Schwierige Entscheidungen stehen auch in der Außenpolitik an. Die Türkei ist Partei im Syrien-Krieg und hat auch Soldaten in den Irak entsandt, um dort gegen die kurdische Terrororganisation PKK vorzugehen.
In einer strategischen Sackgasse
Trotz der Feldzüge in den Nachbarländern sterben fast jeden Tag türkische Soldaten bei Anschlägen der PKK in der Türkei selbst – dass Erdogan eine militärische Lösung des langjährigen Kurdenkonflikts erzwingen kann, ist unwahrscheinlich.
Eine strategische Sackgasse zeichnet sich ab. Erdogans Vorstellung, die Türkei könne als eigenständige Kraft die Entwicklungen in Europa und im Nahen Osten beeinflussen, entspringt einem verzerrten Selbstbild, das den tatsächlichen Machtverhältnissen nicht entspricht: In Syrien etwa kann Ankara nicht ohne grünes Licht aus Russland handeln.
Gleichzeitig bricht Erdogan die Brücken zum Westen ab. In seiner neuen Regierung wird es laut Medienberichten kein EU-Ministerium mehr geben. Neue Richtungsentscheidungen wären also fällig, doch ob Ankara nach der Wahl dazu fähig sein wird, ist unsicher.