Vorstoß für eine islamische Verfassung: Die Türkei entfernt sich von Europa
Der türkische Parlamentspräsident will die Trennung von Religion und Staat auflösen. Das stößt nicht nur bei der Opposition auf Ablehnung, sondern belastet auch das Verhältnis zu Europa.
Im Verhältnis zwischen der Türkei und Europa zeichnen sich neue Spannungen ab. Nach dem umstrittenen Flüchtlingspakt, juristischen Auseinandersetzungen um die Kunst- und Pressefreiheit und der verweigerten Einreise für mehrere Journalisten droht jetzt ein Streit um die religiöse Verfassung der Türkei.
Der türkische Parlamentspräsident Ismail Kahraman forderte, als muslimisches Land müsse die bisher säkular verfasste Türkei eine „religiöse Verfassung“ haben. In der angestrebten neuen Verfassung für das EU-Bewerberland dürfe das Prinzip des Säkularismus keine Rolle mehr spielen.
Zwar stieß Kahramans Forderung bei der Opposition, aber auch in den Reihen der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP sowie in der Umgebung von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan auf Ablehnung. Erdogan-Berater Burhan Kuzu erklärte, der AKP-Entwurf für eine neue türkische Verfassung bekenne sich klar zum Laizismus. Dennoch befürchten Kritiker der Regierung, dass der Vorstoß mehr als nur eine verunglückte Einzeläußerung darstellen könnte. Die Kurdenpartei HDP warf Kahraman vor, religiöse und konfessionelle Spannungen zu schüren. Die Regierung strebe nach einer „despotischen, faschistischen“ Staatsform.
Europäischer Gerichtshof: Ankara diskriminiert Minderheiten
Auch in Europa stößt das Verhältnis zwischen Staat und Religion in der Türkei auf Kritik. Der Europäische Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg urteilte am Dienstag, in der mehrheitlich sunnitischen Türkei werde die religiöse Minderheit der islamisch-liberalen Aleviten systematisch diskriminiert. Bis zu 20 Millionen türkische Staatsbürger würden in ihrer freien Religionsausübung behindert. Ankara erkennt die Aleviten nicht als eigenständige Religionsgemeinschaft an und weigert sich unter anderem, die Gebetshäuser der Minderheit so zu subventionieren wie sunnitische Moscheen.
Die neue Islamismus-Debatte in Ankara dürfte das Misstrauen europäischer Politiker gegenüber Erdogan verstärken. Zuletzt hatten Prozesse gegen türkische Journalisten, Einreisesperren gegen ausländische Reporter sowie die vorübergehende Festnahme einer Erdogan-kritischen Journalistin aus den Niederlanden Kritik an Ankara ausgelöst. EU-Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD) warnte Ankara vor dem Versuch, sich unliebsamer Berichterstatter zu entledigen.
Die Grünen wollen die Einschränkungen der Pressefreiheit in der Türkei im Bundestag zur Sprache bringen. Journalisten müssten dort frei arbeiten können, sagte Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt in Berlin. Dies müsse sowohl für ausländische wie auch für türkische Journalisten gelten. Göring-Eckardt warf Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) vor, die Missstände bei ihrem Türkei-Besuch am vergangenen Samstag nicht deutlich angesprochen zu haben.