Regierungsfindung: Die "stabile Mehrheit" ist völlig überschätzt
Der rigide Einigungszwang auf "stabile" Koalitionen führt dazu, dass politische Handlungsspielräume mehr als nötig eingeengt werden - und das ist falsch. Ein Gastbeitrag
„Wir werfen niemandem vor, dass er für seine Prinzipien einsteht. Wir tun es aber auch.“ Mit diesen Worten begründete der FDP-Vorsitzende Christian Linder, dass seine Partei die Sondierungsgespräche mit Unionsparteien und Grünen platzen ließ. Dass Deutschland als einflussreichstes Land der EU nun längere Zeit von einer geschäftsführenden Bundesregierung geleitet werden wird, ist aber weniger der Prinzipienfestigkeit der Parteien anzulasten. Vielmehr führte die engstirnige Vorfestlegung auf eine Mehrheitskoalition aus denkbar unterschiedlichen Parteien in diese Bredouille.
Seit Konrad Adenauer rezitieren die deutschen Parteien das Mantra, dass es bei der Regierungsbildung darum ginge, eine stabile Mehrheit zu bilden, die sich in allen Fragen zu Kompromissen durchringt (und die Opposition ausschließt). Dies hat leidlich funktioniert, als rot-grüne, schwarz-gelbe, oder schwarz-rote Koalitionäre überschaubare Konflikte aus dem Weg zu räumen hatten. Im heutigen zersplitterten Parteiensystem ist diese eine Mehrheit aber abhandengekommen. Dass sich Grüne, FDP, CSU und CDU auf eine gemeinsame Klima-, Landwirtschafts-, Finanz und Flüchtlingspolitik verständigen könnten, ohne ihre jeweilige Anhängerschaft zu verprellen, musste jeder Wahl-O-Mat-Nutzer bezweifeln. Was im grün-schwarz regierten Baden-Württemberg oder im Jamaika-regierten Schleswig-Holstein möglich scheint, ist eben nicht ohne Weiteres nach Berlin übertragbar. Am Kabinettstisch in Stuttgart und Kiel ringen sie nicht über hochstrittige Fragen, wie den Familiennachzug von Flüchtlingen, den Kohleausstieg, oder die Vorschläge zur EU-Reform von Frankreichs Präsident Macron.
Auch Neuwahlen werden nicht zu der einen stabilen Koalition führen
Bleibt die SPD bei ihrer Einschätzung, dass Regierung neuerdings Mist sei, bedeutet das frühe Ende von Jamaika, dass auf absehbare Zeit in Berlin keine Mehrheitsregierung gebildet kann. Auch mögliche Neuwahlen werden sicher nicht die eine Mehrheit wiederauferstehen lassen, sondern allenfalls ein paar Prozente und politisches Personal verschieben. Möglicherweise werden Neuwahlen auch den Missmut der Wählerschaft erhöhen und mit einer weiter erstarkten AfD die Mehrheitsbildung im nächsten Bundestag noch schwieriger gestalten. Kluges politisches Handeln hieße in dieser Situation, die neue Unübersichtlichkeit im Bundestag zu akzeptieren und darauf mit angemessenen Formen politischer Zusammenarbeit zu reagieren. Anstatt zwanghaft zu versuchen, eine Mehrheit zu bilden, sollten die Spitzenpolitiker in Berlin sondieren, welche Parteien mit wechselnden Mehrheiten in verschiedenen Sachfragen künftig gemeinsam handeln könnten.
Eine Minderheitsregierung wäre das geeignete Format, in die eine flexible Mehrheitsbildung eingebettet werden könnte. Als stärkste Kraft ist die CDU am ehesten geeignet, ein solches Minderheitenkabinett anzuführen. Zudem besitzt sie nach dem von Angela Merkel betriebenen Kurs in die politische Mitte Schnittmengen mit verschiedenen Parteien im Bundestag. Dies erlaubt ihr in Sachfragen, in denen sich etwa Jamaika nicht einigen konnte, nach alternativen Unterstützungskoalitionen zu suchen. Beispielsweise wäre es mit der SPD relativ zügig möglich, die Vorschläge von Frankreichs Präsident Macron zur Reform der EU zu unterstützen. Dieses Vorhaben lag seit der Wahlnacht auf Eis, da die FDP ihre Minderheitenposition(!) in der Europapolitik in einer möglichen Jamaikakoalition durch ein koalitionsinternes Veto hätte durchsetzen können.
Die Kritik an Minderheitsregierungen ist in Deutschland weit verbreitet und wird gern effektvoll mit einem kurzen Ausflug in die späte Weimarer Republik vorgetragen. „Deutschland muss stabil regiert werden, und dafür bedarf es einer Mehrheit im Parlament“, fasste Jürgen Trittin nach dem Scheitern der Jamaika-Gespräche jüngst den gängigen Tadel der vermeintlichen Instabilität von Minderheitsregierungen zusammen. Ähnlich äußerte sich Angela Merkel am Wahlabend und wiederholte ihr Vorbehalte nach dem Scheitern der Sondierungsgespräche. Dabei ist die pauschale Ablehnung von Minderheitsregierungen oft reflexhaft und wenig überzeugend.
Andere Länder zeigen, dass wechselnde Mehrheiten stabil sein können
Erstens, lässt sie die Frage unbeantwortet, wie denn ein Land stabil regiert werden soll in dem jede rechnerisch mögliche Mehrheitskoalition so viele Gegensätze aufweist, dass sie an verschiedenen Streitfragen zerbrechen könnte oder sich, wie im Falle von Jamaika, gar nicht erst bildet. Der rigide Einigungszwang in Mehrheitskoalitionen und der gleichzeitige Ausschluss der Opposition führt überhaupt erst dazu, dass politische Handlungsspielräume mehr als nötig eingeengt werden. Wenn Deutschland stabil regiert werden soll, so müsste man Trittin entgegnen, bedarf es heute vielleicht eher wechselnder als rigider Mehrheiten im Bundestag. Zweitens demonstriert der Blick über den eigenen Tellerrand nach Neuseeland, Dänemark oder Schweden, dass Minderheitsregierungen verlässliche und stabile Mehrheiten bilden können.
In Unterstützungsabkommen mit verschiedenen Partnern vereinbaren dort Minderheitsregierungen Inhalt und Regeln für eine langfristige und stabile Zusammenarbeit in der Gesetzgebung. Auch für die Tolerierungspartner ist eine Minderheitsregierung nicht unattraktiv. Anders als in einer Mehrheitskoalition können sie ihre Unterstützung nun auf Kompromisse beschränken, die ihren programmatischen Kern nicht beschädigen. In anderen Fragen können sie sich enthalten und so demonstrieren, dass die Position der Regierung nicht die eigene ist, ohne dabei einen Sturz der Regierung zu provozieren.
Auch das Grundgesetz legt einer Minderheitsregierung keine Steine in den Weg. Zwar benötigt ein Kandidat in den ersten beiden Wahlgängen der Kanzlerwahl die absolute Mehrheit der Abgeordneten. Im dritten Wahlgang kann jedoch mit relativer Mehrheit ein Minderheitenkanzler gekürt werden. Dies erlaubt den möglichen Tolerierungspartnern ihre bedingte Unterstützung durch Enthaltung zu signalisieren. Anschließend muss der Bundespräsident entscheiden, ob er den Minderheitenkanzler ernennt oder Neuwahlen ausruft. Verfassungsrecht und politische Vernunft raten dem Bundespräsidenten jedoch nur dann zu Neuwahlen, wenn eine handlungsfähige Regierung unter einem Minderheitenkanzler offensichtlich unmöglich erscheint. Nach der Investitur ist eine Minderheitsregierung durch das konstruktive Misstrauensvotum vor der Abwahl durch eine rein destruktive Mehrheit geschützt. Das Scheitern der Jamaika-Sondierungen markiert für Bundeskanzlerin Merkel einen „Tag des tiefen Nachdenkens, wie es weitergeht in Deutschland“. Es ist zu wünschen, dass die politischen Akteure dabei insbesondere darüber nachdenken, wie die politische Zusammenarbeit von Parteien in einer Zeit gestaltet werden kann, in der schon längst nicht mehr nur eine Mehrheit in allen Fragen, sondern verschiedene Mehrheiten in verschiedenen Fragen existieren.
- Christian Stecker ist Politikwissenschaftler und Research Fellow und Projektleiter am Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung
Christian Stecker