SPD-Mitgliedervotum: Die SPD-Spitze wird mit Heilserwartungen überfrachtet
Die SPD-Basis vertraut ihrer Parteiführung nicht. Das hört sich manchmal fast an wie bei der AfD. Ein Kommentar.
Als ein „Fest der Demokratie“ feiern wichtige SPD-Politiker den Mitgliederentscheid über den Eintritt in eine große Koalition, dessen Ergebnis am kommenden Sonntag feststehen soll. Es ist verständlich, dass verunsicherte Sozialdemokraten nach Gründen suchen, warum sie trotz niederschmetternder Umfragewerte noch stolz auf ihre Partei sein können. Das Vorgehen ist auch rechtlich in Ordnung. Doch die Legitimationsverfahren der anderen Parteien für die große Koalition (CDU: Parteitagsvotum, CSU: Vorstandsbeschluss) sind bei Licht betrachtet keinesfalls undemokratischer.
Was im Willy-Brandt-Haus als vorbildliche Auseinandersetzung gepriesen wird, hat seinen Preis: Das Absacken in Umfragen ist auch dadurch erklärbar, dass offener Streit über Wochen hinweg viele Wähler abschreckt. Wissenschaftler haben errechnet, dass sich die SPD trotz ihrer mageren 20 Prozent Wählerstimmen im Koalitionsvertrag zu 70 Prozent durchgesetzt hat. Wer als Partei seine eigene Leistung trotzdem schlechtredet, kann niemanden von der eigenen Politik überzeugen.
Sigmar Gabriel hat der SPD das Mitgliedervotum gebracht. Dahinter gibt es kein Zurück
Es lohnt ein Blick zurück: Das SPD-Mitgliedervotum über einen Koalitionsvertrag wurde vor vier Jahren vom damaligen Parteichef Sigmar Gabriel eingeführt. Der wollte so den Einfluss der Funktionäre bremsen, die sich seiner Ansicht nach mit ihrer Parteikultur vom Rest der Gesellschaft weit entfernt haben. Seine Rechnung ging auf: Fast 80 Prozent der Mitglieder stimmten für den Koalitionsvertrag.
Ob es ihr passt oder nicht: Hinter diesen Standard der Basisbeteiligung kann keine SPD-Führung mehr zurück. So viele Jastimmen wie Anfang 2014 werden es nach vier weiteren Regierungsjahren aber nicht mehr werden. Viele Sozialdemokraten haben diese Zeit als fortgesetzte Demütigung erlebt. Die neue SPD-Spitze wird froh sein, wenn sie überhaupt eine Mehrheit erhält – und nicht aus einem Nein die Konsequenzen ziehen und zurücktreten muss.
Käme es so, würde eine kopflose Partei, die erklärtermaßen nicht regieren will, in Neuwahlen taumeln. Kevin Kühnert will diese Aussicht offenbar nicht wahrhaben – andere Sozialdemokraten sollten den Mut haben, in diesen Abgrund zu blicken.
Die Sozialdemokraten stilisieren sich zu besseren Demokraten. Dazu passt eine verstörende Erfahrung überhaupt nicht: Ein Teil der Genossen überzieht die eigene Führung mit übelsten Verdächtigungen, beschuldigt sie offen der Täuschung. Die blanke Wut, die sich nun entlädt, ist nur zum Teil mit dem Zickzackkurs erklärbar, für den in der Groko-Frage nicht nur Martin Schulz, sondern die gesamte SPD-Führung verantwortlich war.
Die SPD-Basis traut der Parteipspitze mittlerweile alles Böse zu
Alles Böse scheinen manche Sozialdemokraten nun der Parteispitze zuzutrauen, die ihre Delegierten doch zuletzt im Dezember erst gewählt hat. Die Misstrauenskultur und der Hass auf angebliche Verräter an der Spitze ähneln auf erschreckende Weise den Vorwürfen von AfD-Anhängern gegenüber den etablierten Parteien. Können Sozialdemokraten, die mit Rechtspopulisten nun gar nichts zu tun haben wollen, noch guten Gewissens in den Spiegel schauen? Es spricht nicht gerade für die Berliner SPD, dass sie dem Misstrauen gegenüber der eigenen Bundesspitze noch ungehemmter Ausdruck verleiht als andere Landesverbände.
Besonders verantwortlich ist auch die Weigerung vieler Sozialdemokraten nicht, im Streit um die große Koalition die Welt jenseits der Grenzen der eigenen Partei in den Blick zu nehmen. Deutsche Regierungsfähigkeit, europäische Handlungsfähigkeit – für viele Genossen scheinen das keine relevanten Fragen mehr. Mag das Haus schon heftig brennen und die Löschmannschaft längst benannt sein: Viele in der SPD wollen erst mal in Ruhe debattieren, wer sich nun überhaupt als Feuerwehrmann oder -frau betätigen darf. Auch die Forderung nach einer Urabstimmung über die oder den nächsten Vorsitzenden ist vor allem ein Ausdruck von Misstrauen und die Folge eines Führungsversagens. Der angeschlagene Parteichef Schulz hatte der Basis dieses Instrument versprochen, um sich beliebt zu machen. Er hat damit Erwartungen geweckt, die seine Nachfolger nur schwer wieder einfangen können.
Mit dem Ja zum Koalitionsvertrag fängt die Vertrauensarbeit erst an
Die Aufgabe der Führung der SPD wird nicht leichter dadurch, dass neue Vorsitzende meist mit Heilserwartungen überfrachtet werden. Diese Überforderung des eigenen Spitzenpersonals hat hohe menschliche Kosten. Fast ist es schon ein Gesetz in der SPD: Die Enttäuschung über das Scheitern eines Vorsitzenden an übermenschlichen Erwartungen wird bei seinem Sturz durch einen besonders unmenschlichen Umgang mit ihm kompensiert.
Wer jetzt dennoch antritt, sollte von der eigenen Partei nicht mit Verdächtigung überzogen, sondern mit dem Vertrauen gestärkt werden, dass er weder ein Messias noch ein Betrüger ist, sondern sich bemühen wird. Denn so viel steht eine Woche vor Bekanntgabe des Ergebnisses des Mitgliedervotums schon fest: Wenn die SPD-Mitglieder Ja sagen zur großen Koalition, fängt für Olaf Scholz und Andrea Nahles die Arbeit erst an.
Hans Monath