Gesine Schwan, Kandidatin für den SPD-Vorsitz: „Die SPD ist vor heiklen Themen zurückgeschreckt“
Gesine Schwan über ihre Kandidatur als SPD-Chefin, schwere Fehler ihrer Partei, Angebote an AfD-Wähler – und die Transformation der Lausitz. Ein Interview.
Die Politikwissenschaftlerin Gesine Schwan hat ihr Interesse daran bekundet, Vorsitzende der SPD zu werden. Die Politikwissenschaftlerin war von 1999 bis 2008 Präsidentin der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder und gründete die inzwischen eingestellte Humboldt-Viadrina School of Governance.
2004 und 2009 kandidierte sie als Bundespräsidentin – und unterlag beide Male gegen den Unions-Kandidaten Horst Köhler.
Frau Schwan, wollen Sie mit Juso-Chef Kevin Kühnert wirklich eine Doppelspitze der SPD bilden – oder ist es ihr Plan, durch Ihre Kandidatur andere dazu zu verleiten, sich zu bewerben?
Weder das eine noch das andere. Ich würde es aber als demütigend empfinden, wenn sich über Wochen hinweg niemand um diese Spitzenposition bewerben würde. Ich hätte mir ja gut vorstellen können, dass Malu Dreyer als eine Art präsidiale Vorsitzende für ein paar Jahre unsere Partei wieder nach oben bringt. Aber sie will absolut nicht. Deshalb habe ich mich entschieden, zu kandidieren. Ich habe heute keine Feinde in der SPD.
Aber Sie haben doch gesagt, dass Sie sich vorstellen könnten, mit Kevin Kühnert eine Doppelspitze zu bilden ...
Ich schätze ihn und seine Arbeit. Ich weiß auch, dass manche es eine verrückte Kombination finden – eine 76-jährige Wissenschaftlerin und ein 29-jähriger Juso-Chef. Aber ich habe auch gesagt, dass ich vermute, dass er sich nicht bewerben wird.
Sie gehen an die Öffentlichkeit, ohne mit ihm gesprochen zu haben?
Ich habe mit ihm gesprochen. Aber was er mir gesagt hat, müssen Sie ihn selbst fragen. Ich glaube nicht, dass es dazu kommt, dass Kevin Kühnert und ich ein Kandidaten-Duo bilden.
Dann wollen Sie alleine oder mit einem anderen Ko-Kandidaten antreten?
Ich möchte kandidieren, wenn es genügend Unterstützung gibt. Im Übrigen fände ich es gut, wenn neben den zwei Parteivorsitzenden ein größeres Team gebildet würde. Es war ein großes Problem für Andrea Nahles, dass sie neben Vizekanzler Olaf Scholz offenbar nicht viele vertraute Gesprächspartner hatte. Eine Person alleine kann diese Aufgabe gar nicht bewältigen.
Was wollen Sie als Vorsitzende erreichen?
Jedenfalls gelingt Integration nicht durch ein Sammelsurium von Positionen. Es geht um eine wirksamere inhaltliche Verständigung in der Partei. In der laufenden innerparteilichen Kommunikation reicht es nicht, kurzfristig auf tagesaktuelle Herausforderungen zu reagieren. Wir müssen uns unserer längerfristigen Ziele gemeinsam vergewissern, um an einem Strang zu ziehen, und auch nach außen mehr mit verschiedenen Gruppen kommunizieren. Damit können wir eine Trendwende erreichen.
Sie wollen eine intellektuellere SPD?
Jedenfalls eine Partei, die viel analytischer vorgeht und sich endlich um langfristige Perspektiven kümmert. Von mir aus können Sie es auch „Visionen“ nennen. Es geht darum, ob wir uns eine Gesellschaft vorstellen können, die besser ist als die, in der wir leben – eine Gesellschaft mit mehr Freude und Demokratie, in der wir uns mehr zu Hause fühlen.
Sie beklagen den Umgang der SPD mit Andrea Nahles vor deren Rücktritt. War es nicht schon immer so, dass die Führung der Partei mit der Basis und untereinander in einem Spannungsverhältnis lebte?
Es gab auch in der Trias Herbert Wehner, Willy Brandt und Helmut Schmidt viele Spannungen. Aber es verband sie doch ein gemeinsames Pflichtbewusstsein und eine gemeinsame Idee von den Aufgaben der SPD, so dass sich der öffentliche Streit in Grenzen hielt. Das war bei Andrea Nahles anders. Da gab es Heckenschützen von innen und außen, die sich keine Grenzen mehr auferlegt haben.
Die Grünen haben die SPD in Umfragen weit überholt. Sollte die Sozialdemokratie bereit sein, auch unter einer grünen Kanzlerin oder einem grünen Kanzler in einer Regierung zu arbeiten?
Ja, aber es würde vielen altgedienten Genossinnen und Genossen sehr schwerfallen. Früher hat Gerhard Schröder die Grünen einmal mit dem Spruch vom Koch und dem Kellner ärgern wollen. Daran erinnern sich viele Grüne noch sehr genau. Als Parteichefin würde ich dafür kämpfen, dass wir wieder stärker werden, aber ich halte die Grünen für wichtig. Mir geht es um einen Politikwechsel in der Europa-, Klima-, Wirtschafts- und Flüchtlingspolitik.
Was soll sich ändern in der Klimapolitik, warum braucht es einen Politikwechsel?
Die Sozialdemokratie muss den Gerechtigkeitsaspekt beim Klimawandel wichtig nehmen und konkret ausbuchstabieren. Es geht dabei auch um kulturelle und psychologische Faktoren. Ich arbeite gerade gemeinsam mit dem Bundesumweltministerium an einem Projekt in der Lausitz, wo wir mit Bewohnern der Region, gerade auch mit Künstlern, die kulturelle Dimension der Transformation thematisieren wollen.
Warum das?
Die Menschen in der Lausitz waren ja sehr stolz darauf, dass sie die Energie für große Teile der DDR bereitstellten. Was passiert mit diesem Stolz, wenn sie nun nur noch als Luftverpester gelten? Das ist für die Bewohner der Region schwierig. Die SPD muss versuchen, durch demokratische Teilhabe einen Neubeginn zu ermöglichen. Es geht nicht nur um Kosten, es geht auch darum, Menschen in der Transformation wieder Möglichkeiten zu geben, selbst zu entscheiden und zu gestalten.
Und warum braucht es den Politikwechsel in der Flüchtlingspolitik?
Von Anfang an hätte die SPD in ihrer Flüchtlingspolitik konsequent sagen sollen, dass wir Gerechtigkeit walten lassen müssen. Ich kann Flüchtlinge nicht in eine Gesellschaft hineinschicken, in der sich 20 Prozent der Bevölkerung materiell oder kulturell abgehängt fühlen, ohne die Gerechtigkeitsfrage zu stellen. Es ist doch völlig normal, dass solche Menschen Angst vor der neuen Konkurrenz auf dem Wohnungsmarkt haben, wenn dort ohnehin Knappheit herrscht.
Wie sieht Ihre Lösung aus?
Ich schlage vor, die Aufnahme von Flüchtlingen auf der Ebene von Kommunen zu regeln und die Menschen dabei mitentscheiden zu lassen. Die gleichen Ausgaben, die für die Flüchtlinge anfallen, sollen zudem für andere Einwohner dieser Kommunen ausgegeben werden. Das schafft Gerechtigkeit.
Warum hat die SPD ihre Anregung nicht längst aufgegriffen?
Die Spitze der SPD ist immer wieder davor zurückgeschreckt, heikle Themen anzusprechen. Das war ein Teil des Problems. Ich glaube, dass wir das wieder wagen müssen.
Würden Sie dafür auch mit Wählern der AfD sprechen?
Ich würde jederzeit mit Wählern der AfD sprechen. Da habe ich gar kein Problem. Das sind nach meinem Glauben auch alles Gotteskinder – damit muss ich umgehen.
War es dann falsch, dass der Evangelische Kirchentag die AfD ausgeladen hat?
Ich hätte die AfD nicht vom Kirchentag ausgeladen. Ich hätte mit ihren Vertretern sofort argumentiert und ihnen gesagt, was ich an ihnen gefährlich finde. Allerdings mit der Ausnahme von Alexander Gauland. Ich habe zu oft erlebt, dass man mit ihm keine Argumente austauschen kann.
Wird die große Koalition den Parteitag der SPD im Dezember überleben?
Das sind Spekulationen, die ich völlig unwichtig finde.
Braucht die SPD eigentlich mit zwölf Prozent noch einen Kanzlerkandidaten?
Es gibt gar keinen Grund, diese Frage im Moment zu stellen.
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