Groko-Vertrag: Die SPD-Abstimmung gefährdet die Demokratie
0,7 Prozent der Wahlberechtigten haben das Privileg, final über eine Koalition zu entscheiden. Das ist sowohl politisch als auch verfassungsrechtlich fragwürdig. Ein Kommentar.
Der Erfolg scheint ihm Recht zu geben. Mit mehr als 460.000 kleinen Co-Parteivorsitzenden im Rücken hat SPD-Chef Martin Schulz bei den Verhandlungen zur neuen großen Koalition einiges für die Sozialdemokraten herausholen können, trotz des desaströsen Wahlergebnisses bei der Bundestagswahl im vergangenen September. Gegen die gezielt eingesetzte Unberechenbarkeit der SPD-Parteibasis, die dem Koalitionsvertrag noch in einer Mitgliederbefragung zustimmen muss, konnte die CDU gerade noch mit Ach und Krach das Kanzleramt verteidigen – so könnte ein spöttisches Fazit der Verhandlungen lauten.
Die Vorgehensweise der SPD ist aber sowohl politisch als auch verfassungsrechtlich fragwürdig. Mit der Mitgliederbefragung, die die SPD nun schon zum zweiten Mal bei einer Regierungsbildung auf Bundesebene durchführt, hat sie ein basisdemokratisches Verfahren etabliert, das das Grundgesetz explizit nicht vorsieht. Und es ist auch überhaupt nicht einzusehen, warum den SPD-Mitgliedern, die nur 0,7 Prozent der Wahlberechtigten insgesamt ausmachen, das Privileg eingeräumt wird, in einer Art zweitem Wahlgang über die Bildung einer neuen Regierung abzustimmen. Insofern kann man auch nicht argumentieren, dass es sich dabei um eine rein innerparteiliche Angelegenheit handelt.
Die Vorgehensweise der SPD beschleunigt darüber hinaus die Entparlamentarisierung der politischen Entscheidungsprozesse und untergräbt den in der Verfassung verankerten Grundsatz der repräsentativen Demokratie. Denn die Abgeordneten des Deutschen Bundestags sind nach Artikel 38 Grundgesetz „Vertreter des ganzen Volkes“ und nicht der SPD-Basis.
Der Koalitionsvertrag ebnet den Weg zum verbotenen Fraktionszwang
Wenn im Koalitionsvertrag dann noch die Gesetzgebung für die gesamte Legislaturperiode festgelegt wird, von der die SPD-Abgeordneten aufgrund des verbindlichen Mitgliederentscheids auch nicht abweichen dürften, steht das vom Grundgesetz garantierte freie und unabhängige Mandat auf dem Spiel. Eine solche weitgehende Einschränkung der Abgeordneten überschreitet die Grenze der noch zulässigen Fraktionsdisziplin zum verfassungswidrigen Fraktionszwang.
Politisch führt eine Befragung der Mitglieder dazu, dass die Kompromissfindung innerhalb einer Koalitionsregierung unnötig erschwert wird. Das haben die vergangenen Wochen eindrücklich bewiesen. Es dürfte in Zukunft sogar noch schwieriger werden, denn es ist nur eine Frage der Zeit, wann die anderen Parteien ebenfalls mit der Drohkulisse der eigenen Basis an den Verhandlungstisch treten.
Es wäre wünschenswert, dass sich das Bundesverfassungsgericht einmal ausführlich mit dieser Frage beschäftigen könnte. Bisher waren dem obersten Gericht die Hände gebunden. Die eingelegten Verfassungsbeschwerden scheiterten immer bereits in der Zulässigkeitsprüfung. Per Verfassungsbeschwerde können nur Akte öffentlicher Gewalt angegriffen werden. Darunter lassen sich aber auch 200-seitige Koalitionsverträge nicht subsumieren. Per Organstreitverfahren könnte aber ein mutiger SPD-Abgeordneter zur höchstrichterlichen Klärung dieser wichtigen Frage beitragen.