Tiergarten in Berlin: Die Sorge vor dem Staatsversagen
Der Tiergarten zeigt die Handlungsunfähigkeit des Staates. Doch die findet sich auch andernorts. Dagegen hilft nur: Mehr Staat wagen. Ein Kommentar.
Durch den Tiergarten schallt ein Hilferuf. Ein politischer Hilferuf. Denn Bezirksbürgermeister Stephan von Dassel, ein Grüner, warnt vor einem rechtsfreien Raum unweit des Reichstages, weil Dealer, Stricher, Obdachlose den Park okkupieren. Deutschlands bekannteste Grünfläche droht zur No-Go-Area zu werden.
Das ist für sich genommen ein Problem. Es ist aber auch ein Symptom für die Handlungsunfähigkeit des Staates. Es sind Probleme wie der Tiergarten, die zu einer Entfremdung zwischen politischen Vertretern und Souverän führen. Und das nicht etwa, weil unter den Dealern, Prostituierten und Obdachlosen Migranten wären, sondern weil es lange dauert, bis die Situation überhaupt von der Politik als Problem erkannt wird, bis ein Alarmruf ertönt. Und weil auf den Alarmruf meist mit kollektiver Verantwortungslosigkeit reagiert wird. Im Fall Tiergarten zeigt die Bundespolizei auf den Senat, der auf den Bezirk und umgekehrt. Am Ende will keiner zuständig sein.
Ohne Bedrohungsgefühl durch einen Park laufen zu wollen, ist kein exotischer Wunsch, sondern ein normales Bedürfnis des Bürgers an den Staat. Und dies wird in Berlins Mitte derzeit nicht erfüllt. Auch andere Orte ließen sich aufzählen, die gemessen am gesunden Menschenverstand nicht unbedingt als sicher angesehen werden können.
Negative Erfahrungen im direkten Kontakt mit dem Staat
Nur speist sich die Unzufriedenheit über die Handlungsfähigkeit des Staates nicht nur aus der Sorge um die eigene Sicherheit. Es geht, leider, um mehr. Im Bürgeramt herrscht chronischer Personalnotstand, weshalb man auf Unterlagen, Urkunden, Anträge mitunter wochenlang warten muss. In der Schule bröckelt der Putz, stinken die Toiletten oder es fehlt an Lehrern. Im Gesundheitswesen muss man ebenfalls entweder warten bis ein Facharzttermin frei ist oder auf dem Land überhaupt ein Arzt zur Stelle ist. Von der Pflege gar nicht erst zu reden. Gerichtsentscheidungen ziehen sich hin. Die Polizei zeigt sich bei normalen Einbrüchen oft hilflos. Und und und. Natürlich ist Deutschland kein Failing State. Und ja, es gibt auch Beispiele, die zeigen, dass der Staat handlungsfähig ist und Dinge funktionieren. Nur häufen sich einfach die Beispiele, die das Gegenteil belegen. Sie häufen sich in Berlin aber auch in anderen Teilen Deutschlands.
Es ist also nicht die innere Sicherheit, die viele Parteien unterspielt haben, und die auch für den AfD-Erfolg mitverantwortlich ist. Es ist die Sorge, dass der Staat die Kontrolle weiter verliert, dass er sich immer mehr zurückzieht und selbst grundlegende Bedürfnisse nicht mehr erfüllen kann. Wenn die negativen Erfahrungen der Menschen beim direkten Kontakt mit Politik und Staat überwiegen, formt sich ein Bild des Versagens, des Rückzugs und der Verärgerung.
Mehr Staat wagen
Dagegen muss die Politik vorgehen. Und nur so lässt sich der Kampf gegen Ressentiments, Vorurteile und gegen radikale Parteien erfolgreiche führen – durch das Handeln vor Ort. Insofern ist es richtig Probleme zu benennen, die der Bürger wirklich hat. Noch besser ist es, diese auch lösen zu wollen – ohne Kompetenzgerangel. Es geht also nicht nur um innere und äußere, um soziale und ökologische Sicherheit. Es geht in erster Linie um eine funktionale Sicherheit. Dieser bürgerliche Anspruch stellt sich an linke wie rechte Parteien gleichermaßen.
Willy Brandt hatte „Mehr Demokratie wagen“ gefordert. Die aber lebt von einem funktionsfähigen Staat. Deshalb muss es heute wohl lauten „Mehr Staat wagen“. Nicht, um die Wirtschaft zu reglementieren oder die Bürger zu überwachen, sondern um dort besser zu funktionieren, wo es einen berechtigten Anspruch an den Staat gibt. Oder anders gesagt: Dort, wo der Bürger den Staat wirklich braucht. Das kostet Geld – für die Verwaltung, Lehrer, Polizisten, Schulgebäude, Krankenhäuser. Aber es ist gut angelegtes Geld. Weil Vertrauen in den Staat auch Vertrauen in die Demokratie bedeutet. Und das sollte auf keinen Fall verloren gehen.