Wahlen in der Türkei: Die schwindende Macht Erdogans
Autokratien gelten als instabil, zerfressen von inneren Machtkämpfen. Erdogan scheint anders zu sein. Aber stimmt das wirklich? Ein Gastbeitrag.
Als der arabische Frühling 2011 auf seinem Höhepunkt war, galt es als politische Binsenweisheit, dass autokratische Systeme auf Dauer nicht stabil sein können. Die Überzeugung war, was so stabil von außen aussieht, ist von innen so löchrig wie ein Schweizer Käse – durchfressen von internen Machtkämpfen, fehlender Legitimität und vor allem der Notwendigkeit verschiedene Machtgruppen wie Militär und Polizei ständig durch Geldgeschenke bei Laune zu halten.
Ohne Frage, eine beeindruckende Menge von Wählerinnen und Wählern (52,6%) wollen Erdoğan weiterhin als ihren Präsidenten sehen, so scheint es das Wahlergebnis in der Türkei vom Sonntag zu zeigen. Aber was heißt das für die Stabilität der Türkei und seiner Macht auf mittlere bis lange Sicht?
Es liegt im Wesen der Macht, dass sie ein unstetes Gut ist – je mehr man von ihr hat, desto mehr Anstrengung muss man aufwenden, um sie nicht wieder zu verlieren. In Demokratien erneuert sich das System automatisch und regelmäßig durch Wahlen – Politikerinnen und Politiker werden ausgetauscht, Parteien lösen sich an der Regierung ab. Damit verleiht die Bevölkerung den von ihnen gewählten Repräsentanten wieder für ein paar Jahre das Vertrauen und damit die Legitimation zu herrschen.
In autoritären System sieht das anders aus. In der Regel kommt ein Herrscher (erstaunlicherweise seltener: eine Herrscherin) mit einem Vorschuss an Legitimation ins Amt, oft getragen durch den Sieg in einem Bürgerkrieg, einer Revolution oder einem Putsch. Die Krisen, mit denen alle Regierungen von Zeit zu Zeit zu kämpfen haben, nutzen diese Legitimation ab. Schon bald erinnert sich die junge Generation nicht mehr daran, dass das Regime vor dem aktuellen vielleicht viel schlimmer war und welch große Schlachten der aktuelle Herrscher geschlagen haben mag.
Erdogan scheint aus jeder ernsten Krise ohne einen Kratzer hervorzugehen
In der Türkei ist die Sache etwas komplizierter: Obwohl Erdoğan bzw. seine AKP schon seit 2002 an der Macht sind, obwohl er permanent die Freiheiten der Türkinnen und Türken beschneidet und obwohl das Land in den letzten Jahren mehr als eine ernste Krise durchlitten hat, scheint Teflon-Tayyip – wie ihn einige nennen – ohne einen Kratzer aus dem Ganzen hervorzugehen. Ein ums andere Mal, wird er in halbwegs freien – allerdings nicht immer fairen – Wahlen wiedergewählt. Die sich anbahnende Wirtschaftskrise? Der Krieg mit der PKK? Die Korruption im Regierungsapparat? All das scheinen die Wählerinnen und Wähler nicht ihm anzulasten. Und selbst wenn, kommt die Wut auf die Regierung oft gepaart mit einem Batzen Resignation: „die Opposition machts‘ auch nicht besser!“.
Was von außen vielleicht aber manchmal nicht so sichtbar ist: um die Legitimation seiner Herrschaft zu behaupten und in den häufigen – die aktuelle Wahl, war schon die vierte Abstimmung in drei Jahren – Urnengängen zu verteidigen, muss auch Erdoğan regelmäßig zu Tricks greifen. So sucht und verwirft er regelmäßig seine Bündnispartner, er wechselt seine politischen Überzeugungen, wie andere Leute Hemden – auch wenn der Kern seiner nationalistisch-islamistischen Weltsicht davon unberührt bleibt – und vor allem beschwört er immer wieder Krisen mit echten und fiktiven Feinden herauf, um sich als einzig gangbare Option im Spiel zu halten. Das System bleibt stabil instabil – außen- und innenpolitische Verwerfungen sind die Folge, die der Präsident immer wieder kreieren muss, um neue Legitimation zu erlangen.
Viele AKP Politiker sind von Angst gezeichnet
Dieses Vorgehen ist im Kern nicht neu – wenn auch in seiner ideologischen Ausrichtung leicht anders, als wir es kennen. Wir kennen es von Putin, der in die Ukraine einmarschieren lässt oder auch von den arabischen Herrschern, wie Assad oder Sisi, die vor der islamistischen Gefahr warnen, die sie in ihren Foltergefängnissen erst selbst herangezüchtet haben. Erdoğan inszeniert sich für seine eigene Bevölkerung als Bewahrer der Stabilität und signalisiert gleichzeitig Europa, dass man doch lieber mit ihm Geschäfte mache, anstatt ihm groß in die Innenpolitik reinzureden.
Doch dieses Vorgehen hat seinen Preis: Verbündete können sich der Verlässlichkeit der Türkei nicht mehr sicher sein, die Zahl der ehemaligen Weggefährten, die Erdoğan hinter sich gelassen hat – zum Teil mit brachialen Methoden – wächst, Investoren aus dem Ausland misstrauen einer zunehmend von präsidialen Launen beherrschten Politik. Wer heutzutage mit AKP Politikern spricht findet durchaus noch einige, die Feuer und Flamme für den Präsidenten sind, aber viele sind auch von Angst gezeichnet. Die Paranoia, die Erdoğan an den Tag legt hat auch viele in seiner AKP erfasst. Die Angst davor, dass die Macht, die man jetzt innehat eben nicht von Dauer sein könnte und dass die Opposition nach Jahren eines autoritären Regierungsstils der AKP diesen irgendwann gegen die jetzige Regierung kehren könnte beherrscht Palast und Parlament.
Dazu kommt möglicherweise die sich anbahnende Rezession. Das System Erdoğan ist unter anderem auf Patronage gebaut – der Präsident muss mit Ämtern und Geldgeschenken jonglieren, um verschiedenste Personen und Fraktionen unter Kontrolle zu behalten. In dem Maße, wie die Wirtschaft aber gegebenenfalls nicht mehr die benötigten Summen abwirft, müssen Alternativen her. Es bleiben repressive Maßnahmen – diese höhlen aber im gleichen Zug die Legitimität weiter aus – man denke an die Gezi-Proteste und die spätestens seitdem zunehmenden Verhaftungen und Klagen.
Die Macht des Präsidenten ist nicht so stabil wie es scheint
Es liegt auch in der Natur autoritärer Regime, dass man ihnen eigentlich jeden Tag ihr Ende voraussagt. Da ist die Türkei keine Ausnahme. Genauso wenig wie davon auszugehen ist, dass bei einem Abgang Erdoğans alles zusammenbricht, genauso wenig ist es aber wahrscheinlich, dass dieser Abgang in Kürze stattfindet. Wir müssen uns eingestehen, dass wir als Beobachter von außen, viele der Dynamiken im Inneren des Machtsystems Erdoğan vielleicht nur unzureichend erfassen. Trotzdem ist der Trend klar. Das zeigt sich nicht zuletzt an den Wahlergebnissen der AKP. Von fast 50% der Stimmen ist sie zurückgefallen auf 42,5% und hat damit ihre absolute Mehrheit verloren. Es rumort durchaus auch unter AKP Wählerinnen und Wählern, nur scheint aktuell der Glaube an den Präsidenten noch größer zu sein, als der an die Opposition.
Das bedeutet, dass trotz oder vielleicht sogar wegen ständiger Wahlen und erdrutschartiger Siege die Macht des Präsidenten nicht so stabil ist, wie es scheint. Weder die EU, noch die Bundesregierung sollten zu sehr darauf vertrauen, dass die Macht des Systems Erdoğan von Dauer sein wird und gleichzeitig nicht dem naiven Glauben verfallen, dass dieser Wechsel unmittelbar bevorsteht. Die Lehren aus dem arabischen Frühling, was die Stabilität autoritärer Systeme angeht sind weiterhin wahr, jetzt wird es darauf ankommen eine politische Antwort auf diese zu finden, die Interessens- und Menschenrechtspolitik strategisch sinnvoll miteinander verbindet.
Kristian Brakel