Putin, Russland und die Ostukraine: Die schleichende Invasion
Neurussland - so nennt Russlands Präsident Wladimir Putin jetzt die Ostukraine. Und fordert Gespräche über deren "Staatlichkeit". In der Ukraine hat man verstanden, was Putin damit meint. Kiew hofft auf Hilfe seitens der EU.
Der Kremlchef provoziert erneut: Nachdem Präsident Wladimir Putin die Ostukraine schon als „Nowarossija“ (Neurussland) bezeichnet hatte, forderte er nun ihre Eigenstaatlichkeit. Dadurch tritt die Ukraine-Krise in eine neue Phase - und der Westen ist alarmiert.
Was bezweckt Putin mit seinem Vorstoß?
Schon im April benutzte Russlands Präsident Wladimir Putin für die Südostukraine den Begriff „Neurussland“. Warum die Bolschewiken das von Katharina der Großen eroberte Gebiet nach der Revolution von 1917 an die Ukraine übertragen hätten, „das weiß Gott allein“, sagte Putin damals im russischen Fernsehen. In der Nacht zu Freitag legte er in einer offiziellen Kreml-Erklärung nach, in der er die Separatisten als „Verteidiger von Neurussland“ lobte. Historisch bezieht sich der Name auf eine Provinz des Zarenreichs, die das russische Heer im 18. Jahrhundert von den Osmanen eroberte. Das Gebiet umfasste die heutige Ost- und Südukraine. Die Krim-Annexion rechtfertigte Putin mit ähnlicher Logik. Die Schwarzmeerhalbinsel habe bis 1954 zu Russland gehört, daher werde nun der Fehler von damals wieder gutgemacht.
In dem Interview, das der staatsnahe Erste Kanal am Sonntag ausstrahlte, sagte Putin, Ziel der Gespräche müsse es sein, die Interessen der Menschen in der Ostukraine zu sichern. „Es müssen umgehend substanzielle inhaltliche Verhandlungen anfangen - nicht zu technischen Fragen, sondern zu Fragen der politischen Organisation der Gesellschaft und der Staatlichkeit im Südosten der Ukraine“, sagte er. Zwar relativierte sein Sprecher Dmitri Peskow später die Äußerungen: Putin habe damit keinen eigenen Staat für die Rebellen verlangt.
Der Kremlchef sieht sein Handeln offenbar noch immer in der Konsequenz des, wie er es bezeichnet, „gewaltsamen Umsturzes“ Ende Februar, mit dem die prowestliche Opposition den ukrainischen Staatschef Viktor Janukowitsch zum Rücktritt gezwungen hatte. Aus russischer Sicht war dies ein Verstoß gegen die von der EU vermittelte Übereinkunft, wonach die Ukraine zunächst eine Verfassungsreform durchführt, die den Regionen mehr Selbstständigkeit gewährt, danach sollten Neuwahlen von Präsident und Parlament stattfinden. Kiew ging den umgekehrten Weg. Die Übergangsregierung schränkte sogar die Rechte der russischsprachigen Minderheit im Südosten drastisch ein.
Das führte zu den bekannten Folgen: Massenproteste auf der Schwarzmeerhalbinsel Krim mündeten im März in einen Volksentscheid, mit dem der Beitritt zur Russischen Föderation beschlossen wurde. Um den Verlust der gesamten Südostukraine zu verhindern, begann die Zentralregierung in Kiew im April mit einer „Anti-Terror-Operation“ gegen die prorussischen Separatisten im Osten, die mit zwei „Volksrepubliken“ dem Beispiel der Krim folgen wollen. Der Widerstand der Separatisten eskalierte, als Poroschenko nach seiner Wahl zum Präsidenten Forderungen nach einer Umwandlung der Ukraine in einen Bundesstaat – aus Moskauer Sicht die einzig mögliche Lösung – ablehnte und auf Härte setzte.
Mit Putins Interview vom Sonntag haben sich die Chancen auf eine Föderalisierung drastisch verschlechtert. Moskau strebt in der Ukraine offenbar eine ähnliche Lösung wie in den prowestlichen Ex-Sowjetrepubliken Georgien und Moldawien an. Deren abtrünnige Regionen Südossetien, Abchasien und Transnistrien sind de facto russisches Protektorat. Russland unterstützt die Separatisten, seit diese sich Anfang der 90er Jahre für unabhängig erklärt hatten.
Die jetzt begonnene großangelegte Offensive der prorussischen Separatisten hat die „Befreiung“ von ukrainischen Häfen am Schwarzen und Asowschen Meer zum Ziel. Vor derartigen Entwicklungen hatte der kritische Politikwissenschaftler Stanislaw Belkowski schon im Frühjahr gewarnt. Moskaus langfristiges Ziel sei, einen Korridor zwischen der Krim und Moldawiens abtrünniger Slawenregion Transnistrien zu schlagen. Beide sind von der Ukraine umschlossen und haben derzeit keine Grenzen zu Russland. Mit einem derartigen Korridor würde die Ukraine ihren Zugang zum Meer verlieren – Nato-Schiffe könnten in ukrainischen Häfen nicht mehr vor Anker gehen.
Wie in der Ukraine über Putins Vorstoß diskutiert wird
Wie reagiert die ukrainische Führung auf Putins Äußerungen?
Von offizieller Seite gab es bis zum Nachmittag in Kiew keine Reaktionen. In den sozialen Netzwerken glauben die einen, Putin habe nun vollends den Bezug zur Realität verloren, die anderen sehen diese Äußerungen als weiteren Schritt zur Eskalation der Lage in der Ukraine. Präsident Petro Poroschenko und sein Außenminister Pawlo Klimkin dürften in höchstem Maße beunruhigt sein. In den vergangenen acht Tagen haben sie fast täglich mit Bundeskanzlerin Angela Merkel in Berlin telefoniert und in Kiew und Brüssel Vier-Augen-Gespräche geführt. Dabei ging es immer auch um eine robuste militärische Unterstützung der Ukraine durch den Westen.
Was würde ein solches Szenario für die Ukraine bedeuten?
In der Ukraine ist jedem klar, dass Putin seine Ankündigungen wahr machen wird. Die politische Klasse in Kiew weiß, dass man sie in Moskau nicht als gleichberechtigten Partner akzeptiert. Die Menschen in der Ukraine haben durch ihren Freiheitskampf im Winter 2013/2014 für eine europäische Ukraine votiert. Mittlerweile ist das Land dafür sogar in einen Bürgerkrieg abgeglitten. Die Wirtschaft des Landes liegt am Boden, die Währung hat in den letzten Tagen immer neue Tiefstände erreicht. Im industriellen Herzen der Ukraine, dem Donbass, stehen wegen der Kriegshandlungen alle Maschinen still. Die politische Führung und die Menschen wissen, dass ohne die Unterstützung des Westens die Liquidierung der Ukraine als souveränem Staat droht.
Wie ist die Stimmung in der Ostukraine hinsichtlich einer Eigenstaatlichkeit?
Im Donbass hat es seit der Unabhängigkeit der Ukraine im Jahr 1991 immer starke Bindungen an Russland gegeben. Die meisten der Ostukrainer sprechen Russisch, haben auf der anderen Seite der Grenze Verwandte und Freunde. In den vergangenen zehn Jahren war jedoch eine gewisse Regionalisierung zu beobachten. Die Leute aus dem Donbass entwickelten eine starke Eigenständigkeit. Sie fühlten sich als „Ludij Donbassa“, Leute aus dem Donbass. Identitätsstiftend waren wirtschaftliche Erfolge, der Fußballverein Schachtjor Donezk und zuletzt auch Präsident Janukowitsch. Er wurde von vielen als „einer der Ihren“ angesehen, und man war stolz, dass einer aus dem eigenen Kohlerevier in Kiew regierte. Mittlerweile ist die Stimmung eine andere. Diejenigen, die noch nicht geflüchtet sind, wollen nichts sehnlicher, als dass wieder „Ruhe und Ordnung“ einkehren, der Krieg und die Zerstörung aufhören, und sie in ihren Alltag wie vor den Kämpfen zurückkehren können. Sie wissen aber auch, dass das eine Illusion ist.