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Unter die jugendlichen Randalierer mischten sich auch Neonazis aus Mecklenburg-Vorpommern sowie ganz normale Bürger aus der Nachbarschaft. Sie applaudierten den Brandstiftern, grölten ausländerfeindliche Parolen und versperrten die Zufahrtswege der Feuerwehr.
© dapd

Rostock-Lichtenhagen: Die ostdeutsche Gesellschaft stand dabei, als es brannte

In dieser Woche gedenkt Deutschland der Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen vor 20 Jahren. Heute wehren viele Ostdeutsche die Vorwürfe ab – oder schweigen ganz.

Es sind Bilder, die sich eingebrannt haben ins Gedächtnis: Menschen, die andere Menschen anzünden wollen; lodernde Flammen, Flüchtlinge, die um ihr Leben laufen. Nicht irgendwo, weit weg, nein, hier: in Rostock, im Norden vom Osten, mitten im eilig zusammenvereinigten neuen Deutschland. Vor zwanzig Jahren war das, als sich am Sonnenblumenhaus der gemeine Bürger zum Mob vereinte, mit vor Aufregung eingenässter Trainingshose, als sich der Wende-Frust in Raserei wandelte, als dieser Bürgermob mit Steinen warf auf die Feuerwehr, damit diese nicht retten konnte, was sie nicht retten sollte: diese anderen Menschen – die Ausländer.

In dieser Woche gedenkt das erwachsen gewordene neue Deutschland dieses Fanals des Hasses, und Bundespräsident Joachim Gauck, lange Pfarrer in Rostock, wird – wie das so ist bei Jubiläen – wichtige, gewichtige Worte sprechen. Es wird interessant sein zu hören, ob er seine Mahnungen zu mehr Menschlichkeit auch explizit an die ostdeutsche Öffentlichkeit richtet, die zwanzig Jahre danach noch oft als eigenständige Öffentlichkeit funktioniert und der allzu oft das Weltoffene noch fremd vorkommt.

Nein, Ostdeutschland ist nicht rechtsradikal. Ja, auch in Solingen und Mölln brannten von Türken bewohnte Häuser, auch im Ruhrgebiet münden Angst, Hass und eigene Beschränktheit in Gewalt gegen andere und Andersdenkende. Doch es ist eine traurige Wahrheit: Bezogen auf die Zahl der hier lebenden Menschen gibt es mehr fremdenfeindliche Übergriffe im alten Osten als im alten Westen. Und auch der Terror des Nationalsozialistischen Untergrunds zog ja von Thüringen aus seine mordende Spur durch das Land, unter den verschlossenen Augen der Sicherheitsbehörden. Vor allem aber hat sich Rostock-Lichtenhagen deshalb so eingebrannt ins kollektive Gedächtnis, weil der johlende Mob der gemeine Bürger war. Die Gesellschaft stand dabei, als es brannte.

Die Reaktion vieler Ostdeutscher auf diese schmerzhaften Erkenntnisse ist leider nicht fragend nach innen gerichtet, sondern empört nach außen. In den Medien und Netzwerken zwischen Fichtelberg und Kap Arkona gibt es vor allem anderen diese eine Reaktion: Ostdeutschland ist nicht rechtsradikal. Doch darum geht es gar nicht. Die noch zarte ostdeutsche Bürgergesellschaft lässt Räume frei, welche die NPD nicht nur mit Sportfesten bespielt.

Es gibt dafür eine Menge schlüssige, aber beschwiegene Erklärungen: Viele ländliche Regionen sind nach wie vor strukturschwach (und hätten ansonsten wohl gar kein Sportfest); viele Menschen haben das in der DDR eingeübte Schweigen nicht verlernt. Und hat die DDR nicht sowieso nur aus Antifaschisten bestanden (und sich damit eine 68er-Debatte erspart)? Und bekommt man in Rostock oder im Erzgebirge sowieso vergleichsweise wenige Menschen mit Migrationshintergrund zu Gesicht? Zu DDR-Zeiten lebten vietnamesische Vertragsarbeiter abgeschottet in Heimen (auch im Sonnenblumenhaus), zwanzig Jahre nach den Anschlägen haben Andersaussehende noch immer ein schlechtes Gefühl, in den neuen Osten zu ziehen.

Die Brandwunde von Rostock-Lichtenhagen schmerzt bis heute. Die ostdeutsche Gesellschaft stand dabei, als es brannte, sogar die Polizei. Noch heute schaut der gemeine Bürger zu häufig verstohlen zur Seite, wenn jemand mit dem Hitlergruß über den Dorfanger zieht und eine „National Befreite Zone“ ausruft. Es ist die selbst erkämpfte Freiheit, die man mit dem Schweigen preisgibt.

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