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Das Leben auf dem Land wurde von der Politik in den Metropolen zuweilen vergessen.
© IMAGO

Wohnort und Wahlverhalten: Die Re-Politisierung des ländlichen Raums

Die Politik entdeckt die ländlichen Räume wieder, die Regionalentwicklung wird zum Politikum - denn nicht alle Menschen zieht es in die Städte. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Gerd Appenzeller

Wer im Mittelalter der Leibeigenschaft entkommen wollte, flüchtete in die Stadt. Im Schutz ihrer Mauern war er nach Jahr und Tag aus der Fron entlassen – Stadtluft machte frei. Das ist Geschichte.

Das war Geschichte. Denn im 21. Jahrhundert hat der Satz von der Stadtluft, die frei mache, eine völlig neue Dimension gewonnen. Überall auf der Welt scheinen nur noch die Städte Fortschritt, Chancengleichheit, Freiheit und Wohlergehen garantieren zu können. Hier konzentrieren sich Bildungseinrichtungen, Krankenhäuser und staatliche Fürsorge. Deshalb ziehen überall Menschen in die Nähe der Städte, verlassen die ländlichen Regionen.

Diese Automatik, die vermeintlich den Fortschritt fördert, droht aber seit Jahren ins Gegenteil zu kippen. Das Geld zur Erhaltung der schönen, neuen Welt reicht nicht.

Der Fortschritt zieht in die Städte

Im Ruhrgebiet sind die Folgen zu besichtigen, wenn die Infrastruktur einer ganzen Region verrottet oder Geld für die Pflege von Verkehrswegen und Schulen fehlt. Als wäre das nicht schon fatal genug, wird gleichzeitig der ländliche Raum noch mehr vernachlässigt.

Wenn die Bevölkerung zurückgeht, lohnen sich Investitionen in Wasserleitungen, Sportanlagen und Schienenwege nicht mehr, erklären uns die Planungsrationalisten. Sie machen gerne eine sich immer weiter verstärkende negative Bevölkerungsentwicklung zur Basis ihrer Prognosen und schaffen damit stetig neue, sich selbst erfüllende Prophezeiungen.

Die Menschen in den ländlichen Regionen bleiben zurück

Was sie nicht berechnet haben: Die Menschen machen in diesem Spiel nicht mehr mit. In den Vereinigten Staaten wählen sie selbst ernannte Heilsbringer wie Donald Trump, die versprechen, denen da unten, den Abgehängten des Politikbetriebes der Metropolen, wieder zu ihrem Recht zu verhelfen. Oder sie geben, wie in Deutschland und Frankreich, politischen Bewegungen ihre Stimme, die das eigene Volk mit radikalen Methoden gegen dunkle Gefahren der Globalisierung zu schützen versprechen. Gemeinsam ist der AfD wie dem Front National, dass sie nicht nur, aber auch eine Reaktion auf das Versagen der offiziellen Politik sind.

Die Regionalentwicklung wird zum Politikum

Natürlich ist es einfacher, im ländlichen Raum jede Investition mit der Begründung einzustellen, sie rechne sich nicht – und in Ballungsräumen einsturzgefährdete Autobahnbrücken zu sperren, anstatt sie zu sanieren. Der richtige Ansatzpunkt wäre ein anderer: durch eine verbesserte Infrastruktur das Leben sowohl in den Städten wie auf dem Land wieder lebenswerter zu machen.

Die Bertelsmann-Stiftung hat jetzt in einer Expertenstudie vorgerechnet, dass wachsende Investitionen im öffentlichen Raum erhebliches volkswirtschaftliches Wachstumspotenzial auslösen, ohne dass dadurch Schuldenregeln verletzt würden. Freilich erfordert das mehr Fantasie und Empathie als das gebetsmühlenartige Wiederholen des Satzes von der segensreichen Wirkung der schwarzen Null.

Der Humangeograf Gerhard Henkel fordert, die Politik müsse den Dörfern ihre Kraft und ihren Stolz zurückgeben. Martin Schulz, SPD, hat in seiner ersten Rede im Willy-Brandt-Haus die Rechte der Menschen auf dem Land beschworen. Volker Kauder, CDU, wie Schulz aus dem ländlichen Raum, hieb in die gleiche Kerbe. Landluft macht eben auch freier. Die dort leben wie die, die dort gerne hinfahren. Vielleicht entscheidet das Thema sogar Wahlen.

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