Heftige Kritik an Farage und Johnson im EU-Parlament: "Die Ratten verlassen das sinkende Schiff"
Im Europaparlament weist EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker in der Debatte über den Brexit eine Rücktrittsforderung des deutschen Alfa-Abgeordneten Bernd Lucke zurück.
Am Ende der Debatte über den Brexit im Europaparlament ist es am Dienstag EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, der die Wogen zu glätten versucht. Die EU, erklärt der Luxemburger, lasse sich „nicht gegen die Nationen und ohne die Nationen auf den Weg bringen“. Und dann richtet er sich noch direkt an den deutschen Alfa-Abgeordneten Bernd Lucke, der kurz zuvor die Frage gestellt hat, ob Juncker angesichts des Brexit-Votums nicht besser die Konsequenzen ziehen und zurücktreten solle. „Ich ziehe mir den Schuh nicht an, dass die Kommission Schuld am Ausgang des britischen Referendums gewesen wäre", stellt Juncker klar.
Zuvor hat es im Europaparlament eine teils hitzige Debatte darüber gegeben, was denn nun die richtigen Lehren aus dem britischen Referendum seien. Zudem stieß der überraschende Abgang führender Brexit-Befürworter in Großbritannien im Europaparlament auf scharfe Kritik. "Die Ratten verlassen das sinkende Schiff", sagte der Vorsitzende der liberalen Fraktion, Guy Verhofstadt, am Dienstag in Straßburg. Der Fraktionsvorsitzende der konservativen Europäischen Volkspartei, Manfred Weber (CSU), sprach von einem "feigen und verantwortungslosen" Verhalten.
Im Mittelpunkt der Kritik standen der ehemalige Londoner Bürgermeister Boris Johnson und der Chef der europafeindlichen Ukip-Partei, Nigel Farage. Beide hatten sich für den Brexit stark gemacht und nach allgemeiner Einschätzung großen Einfluss auf das Abstimmungsverhalten ihrer Landsleute.
Nach dem Referendum verzichtete Johnson überraschend darauf, für die Nachfolge des scheidenden britischen Regierungschefs David Cameron zu kandidieren. Der Nachfolger in London muss die langwierigen Verhandlungen über den britischen EU-Austritt führen. Farage gab am Montag seinen Rücktritt als Ukip-Vorsitzender bekannt, will aber nach eigenen Angaben weiter Mitglied des Europaparlaments bleiben. Auch der Präsident der EU-Kommission, Jean-Claude Juncker, kritisierte dieses Verhalten. "Die strahlenden Brexit-Helden von gestern sind nun die traurigen Helden von heute", sagte er während der mehrstündigen Debatte im Straßburger Plenarsaal. "Einer nach dem anderen tritt von der Bühne ab."
Vor allem die kontinentaleuropäischen Abgeordneten im Rund des Straßburger Plenums nehmen das Brexit-Votum zum Anlass, sich grundsätzlich mit dem Zustand der EU zu befassen. Die Bürger seien nicht grundsätzlich gegen die EU, sondern sie seien gegen ein Übermaß an Regulierung, erklärt etwa der Liberale Guy Verhofstadt. Der Belgier, der als glühender Verfechter einer weiteren Vertiefung der EU gilt, erneuert im Plenum seinen Ruf nach einer europäischen Armee, „die die Grenzen verteidigt“.
Marine Le Pen: Völker wollen ihre Souveränität zurück
Ganz anders klingt hingegen die Europa-Vision der französischen Rechtspopulistin Marine Le Pen, die aus dem Brexit-Votum ihre eigenen Schlüsse zieht. „Die Völker wollen ihre Souveränität zurück“, sagt die Vorsitzende des Front National. „Ein Europa der Nationen“ entspreche dem Wunsch der Bürger, sagt die Frau, die im kommenden Jahr zur Präsidentin in Frankreich gewählt werden möchte.
Richard Howitt - ein unglücklicher Labour-Abgeordneter aus Cambridge
Zu denen, die über den Ausgang des britischen Referendums überhaupt nicht glücklich sind, gehört Richard Howitt. Er sitzt in seinem winzigen Abgeordnetenbüro im siebten Stock in Straßburg, nachdem er am Montagmorgen wie immer am Anfang der Sitzungswochen des Europaparlaments in Cambridge um 4 Uhr morgens aufgebrochen ist. Jetzt muss sich der 55-Jährige, der die Labour Party im Europaparlament vertritt, mit der Möglichkeit beschäftigen, dass seine Tage als Parlamentarier in Straßburg bald gezählt sein könnten. Was er sagt, klingt in jeden Fall schon einmal nach Abschied. „Ich habe meinen Wahlkreis geliebt“, sagt Howitt. Und er fügt noch hinzu: „Ich liebe mein Land.“
Wie die Zukunft von Howitts Heimatland Großbritannien in der EU aussieht, ist noch offen. Vor knapp zwei Wochen haben die Menschen in Cambridge, dem Wohnort des Labour-Abgeordneten, zwar für einen Verbleib in der Europäischen Union gestimmt. Aber weil sich die Briten unterm Strich für „Leave“ entschieden haben, sieht es derzeit danach aus, als wären die britischen EU-Abgeordneten spätestens nach der nächsten Europawahl 2019 nicht mehr in Straßburg dabei.
Damit ist für den EU-Befürworter Howitt, der seit 1994 Europaabgeordneter ist und als parlamentarisches Urgestein gilt, schon einmal der Moment für eine persönliche Bilanz gekommen. Zwölfmal war er weltweit als Wahlbeobachter eingesetzt, unter anderem in Sierra Leone, Afghanistan und Pakistan. Den Aussöhnungsprozess in Mazedonien hat er als Parlamentsberichterstatter besonders genau beobachtet. Howitt ist so etwas wie das Gesicht eines international vernetzten Großbritannien und das Gegenteil von „Little England“. Seine persönliche Zukunft sei aber jetzt, da sich der Staub nach dem Brexit-Votum zu legen beginnt, gar nicht das Thema, meint er. Howitt macht sich eher Sorgen um sein Land. „Der Ausgang des Referendums“, sagt er, „ist eine große Tragödie.“
Nigel Farage taucht erst später in Straßburg auf
Dass das nicht alle britischen Europaaabgeordneten so sehen, wird bei der Debatte über den Brexit am Dienstag im Europaparlament deutlich. Nigel Farage, der am Vortag seinen Rücktritt als Chef der EU-feindlichen Partei Ukip bekannt gegeben hat, taucht erst mit etwas Verspätung in Straßburg auf. An der Stelle des Brexit-Vorkämpfers, der sein Mandat als EU-Abgeordneter behalten will, macht der Ukip-Vertreter Paul Nuttal deutlich: „Das britische Volk möchte aus der EU austreten.“ Gleichzeitig wollten die Briten Zugang zum europäischen Binnenmarkt, wie ihn auch die USA und China haben, betont Nuttal. Der Brite zeigt sich überzeugt, dass auch die Kontinentaleuropäer künftig Interesse an guten Handelsbeziehungen zum Vereinigten Königreich hätten. So verweist er darauf, dass 800.000 Autos aus Deutschland im vergangenen Jahr nach Großbritannien exportiert worden seien. Deshalb sollte beide Seiten die Verhandlungen über ihre künftigen Beziehungen „wie Erwachsene“ führen, fordert Nuttal. (mit AFP)