Abschiebungen nach Afghanistan: Die Probleme mit der Identität
Erneut wurden "Identitätsverweigerer" nach Afghanistan abgeschoben. Laut Bayerischem Innenministerium könnte diese Gruppe sich "problemlos" ein Ersatzdokument beschaffen. Doch so leicht ist es nicht.
Ein Hinterhof in Pankow, der Eingang zu einer Kanzlei für Asylrecht. Die Anwältin will nicht namentlich genannt werden, sie erhält immer wieder Morddrohungen – weil sie Asylbewerber vertritt, weil sie versucht, ihre Mandanten vor der Abschiebung zu bewahren. Bei einem ihrer letzten Fälle habe sie nichts mehr machen können, sagt sie. Murat H. (Name geändert) sitzt jetzt auf der Straße in Kabul, vor drei Monaten wurde er abgeschoben. In Afghanistan kenne er niemanden, er sei zuvor noch nie dort gewesen, erzählt sie. Aufgewachsen sei er im Iran. Sie schreiben sich immer noch Nachrichten. Er muss auf der Straße übernachten und weiß nicht, wohin. Auch er will nicht namentlich genannt werden, er hat Angst vor den Taliban.
Das Bayerische Innenministerium hatte ihn als „Identitätsverweigerer“ eingestuft. Als er noch minderjährig war, wurde sein Asylantrag abgelehnt, woraufhin er aus Panik nach Frankreich abgehauen ist. Dort wurde er inhaftiert, zurück nach Deutschland geschickt und wenig später abgeschoben. Am Dienstag landete der elfte Abschiebeflug von Deutschland nach Afghanistan seit Dezember 2016 in Kabul. Allein von den letzten vier „Rückführungsmaßnahmen“ waren 68 Personen betroffen. Am Dienstag saßen 10 Asylbewerber an Bord, davon seien sieben Straftäter und drei Mitwirkungsverweigerer gewesen, teilte das Bundesinnenministerium mit. Die Kosten für einen Flug betragen etwa 130.000 Euro, bezahlt von der EU-Agentur Frontex.
Nur männliche Verwandte können die Tazkira beschaffen
Aus dem Bundesland Berlin wurde seit Dezember 2016 noch kein Afghane abgeschoben. Eigentlich schiebt Deutschland auch gar nicht ab in das vom Krieg zerstörte Land, bei dem allein in Kabul seit Januar rund 190 Menschen durch sechs schwere Anschläge umgekommen sind. Die Ausnahme bilden drei Personengruppen: Straftätern, sogenannte Gefährder und besagte "hartnäckige Identitätsverweigerer". Zu dieser Gruppe zählen Personen, denen ihre Identität nicht geglaubt wird, bei denen Zweifel am vorliegenden Pass bestehen oder kein Dokument vorliegt. Viele geben dem Innenministerium gegenüber an, ihren Pass auf der Flucht verloren zu haben. Sie sollen nun eine sogenannte „Tazkira“ beschaffen. Dafür müssten sie entweder selber in die Botschaft nach Kabul fahren oder einen Verwandten vor Ort dorthin schicken.
Das Bayerische Innenministerium sagt, die Beschaffung dieser sei „in der Regel problemlos möglich“. Der Verwandtenkreis eines Afghanen umfasse durchschnittlich rund 200 Personen. So steht es in den öffentlichen Dokumenten zur Beschaffung einer Tazkira. Auf eine Nachfrage, wie man zu dieser Zahl käme oder welcher Quelle dies entnommen sei, reagierte das Ministerium nicht. Nun hat jeder Mensch laut einer Ahnenforschung zwar mehrere Millionen „Verwandte“, denn irgendwo sind wir alle miteinander verknüpft, wie aus einem „Spiegel“-Artikel hervorgeht. Jedoch kann dies kaum gemeint sein.
Innenministerium: Jeder Afghane hat 200 Verwandte
Die Afghanistan-Expertin Friederike Stahlmann vom Max-Planck-Institut in Halle kann das mit den 200 Verwandten jedenfalls nicht bestätigen. Zudem werden Tazkiras nur an männliche Verwandte ausgegeben. Außerdem braucht es Fotos, Antragsformular und Geld. Wer keine Tazkira eines männlichen Verwandten vorweisen kann, muss zwei männliche Zeugen im Besitz einer Tazkira und eine Bescheinigung der lokalen Polizeidienststelle beibringen, die die Identität und Nationalität des Antragstellers bestätigen. Diese Unterstützung setze somit ein Mindestmaß an sozialer Einbindung, aber vor allem das Wohlwollen der lokalen Polizeidienststelle voraus, so Stahlmann. Häufig müssten Beamte erst bestochen werden.
Die Antragstellung ist zudem ortsgebunden. Innerhalb des Landes werden Tazkiras mit Ausnahme Kabuls nur in den jeweiligen Heimatorten der Herkunftsfamilie ausgestellt. Der Antrag wird dort an den Distriktgouverneur gestellt und muss dann von Ortsvorstehern und dem Statistikamt des Distrikts bestätigt werden. So leicht, wie es das Bayerische Innenministerium darstellt, ist es jedenfalls nicht. Zudem haben einige Geflüchtete Angst, Kontakt nach Afghanistan oder auch zur eigenen Familie aufzubauen, da sie oder ihre Familie von der Taliban verfolgt werden. Vertrauen zu Polizisten oder Anwälten besteht oftmals nicht, diese könnten mit der Taliban verknüpft sein oder über andere Wege Informationen über den Aufenthaltsort des Geflüchteten in Deutschland oder dessen Angehörigen in Afghanistan zur Terrororganisation gelangen.
Für die „Identitätsverweigerer“ besteht laut Ministerium zudem die Möglichkeit einen Anwalt in Kabul mit der Sache zu beauftragen, eine Liste mit Anwälten liegt den Informationen zur Tazkira bei. Doch auch diese können nicht immer weiterhelfen und kosten Geld. Laut Ministerium sind sie zwar „günstig“, aber für manche Geflüchtete eben nicht erschwinglich. Berlins Innensenator Andreas Geisel (SPD) erachtet die Abschiebepraxis seiner bayerischen Kollegen für nicht angemessen. Der Bayerische Flüchtlingsrat, Amnesty International und Pro Asyl sprechen von Willkür.
Kontakte nach Afghanistan nachgewiesen
Das Bayerische Innenministerium schilderte dem Tagesspiegel gegenüber zwei Fälle aus dem Abschiebeflug im Februar: ein abgelehnter Asylbewerber habe bei seiner Anhörung angegeben, seine "Großfamilie", darunter die Eltern und zwei Brüder, würden noch in Afghanistan leben, er habe auch die Telefonnummer seines Vaters nennen können. Er sei mehrfach über seine "Mitwirkungspflicht" informiert worden, er habe jedoch keine Dokumente vorlegen können und sei daher abgeschoben worden. Ein anderer Mann habe ebenfalls angegeben, männliche Verwandte in seinem Heimatland zu haben. Seine Tazkira habe er im Iran verloren. Auf seinem Smartphone habe sich ein "telefonischer Kontakt" nach Afghanistan nachweisen lassen. Trotz mehrmaliger Hinweise, dass er bei der Klärung seiner Identität mitzuwirken habe, habe er keine Dokumente vorlegen oder "entsprechende Bemühungen hierzu nachweisen können". Obwohl der Betroffene "in seiner Duldung räumlich auf den Aufenthalt im Freistaat Bayern beschränkt" gewesen sei, habe er Deutschland verlassen, da er durch die Bundespolizeiinspektion Aachen bei seiner Einreise aus Belgien/Eupen bei einer Buskontrolle aufgegriffen wurde. Wenig später wurde er abgeschoben. Auf die Nachfrage, ob die betroffenen Personen einen Anwalt hatten sprechen konnten, antwortete das Innenministerium nicht.