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Nach dem Anschlag. Nur ein eingebautes elektronisches System konnte den Laster stoppen.
© AFP

Debatte nach Anschlag in Berlin: Die Politik muss Druck widerstehen - und ihn nicht erzeugen

Neue Gesetze zur Terrorabwehr können auch Enttäuschungen steigern statt Sicherheit zu bieten. Der Fall Anis Amri ist ein Beispiel. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Jost Müller-Neuhof

Wie die Bürger Berlins und der Bundesrepublik insgesamt mit dem Anschlag im Herzen der Hauptstadt umgegangen sind, wie sie ihn mit Trauer und Mitgefühl, zugleich aber in bewundernswerter stiller Entschlossenheit überwinden, bekundet möglicherweise unterschätzte Festigkeiten im politischen Urteil: Es soll, es muss bei uns weitergehen wie bisher. Nur mit Leben und Alltag besiegt man auf lange Sicht einen unberechenbaren Terror, den der Staat mit seinen Behörden so wirksam wie möglich zu bekämpfen hat.

Es ist zu wünschen, dass dies die Folie wäre, auf der nunmehr anstehende Remeduren in der Sicherheitspolitik diskutiert werden. Wahrscheinlich ist es jedoch nicht. Der Bundesinnenminister nutzt den Zeitpunkt und tritt mit Zentralisierungsbegehren auf den Plan, die mit der föderalen Praxis schlecht vereinbar sind, während der Fall des Attentäters Amri nun im Düsseldorfer Landtag dazu herangezogen werden soll, mit rot-grünem Versagen abzurechnen; der Bundesjustizminister zieht derweil ein Vorhaben aus der Schublade, um manchen Terrorverdächtigen Peilsende-Fußfesseln anzulegen. Begleitet wird dies alles von einem vielstimmigen Chor in alten und vor allem neuen Medien, dessen Ton schärfer, hektischer, zuweilen unerbittlich wird.

Es unterscheidet Populisten von Nichtpopulisten, dass Letztere darauf verzichten, die alleinige Repräsentation des Volkswillens zu behaupten. Es sollten folglich auch jene Gehör finden, die nicht ständig von sich sagen, sie wüssten, was Bürger wollen. Denn was wollen sie? Die Größe, mit der die Politik hier zu verhandeln hat, ist weniger bekannt, als sie wahrhaben möchte. Sicherheit, klar. Doch welche Opfer, welche Einschränkungen an Freiheit und möglicherweise auch Rechtsstaatlichkeit sind für eine Gesellschaft, in der wir leben wollen, noch hinnehmbar? Bei welchen Werten sollen die Grenzen sein? Werden wir sodann durchschauen, welches Handeln unserer Regierenden Symbol ist und welches Effektivität bedeutet? Wird am Ende Vertrauen oder Enttäuschung produziert?

Die kriminelle Karriere des Anis Amri mag beispielhaft dafür stehen, dass die Erfüllung von Sicherheitsversprechen bestehende Frustrationen noch vertiefen kann. So sind seit dem Terror vom 11. September in den USA alle Grundlagen geschaffen worden, auf denen der spätere Mörder kontrolliert werden konnte. Seit fast einem Jahr galt er amtlich als Gefährder, Staatsanwälte ermittelten, der Verfassungsschutz beobachtete, das Terrorabwehrzentrum tagte. Doch Amri entzog sich. All die Möglichkeiten und Befugnisse führen nun nur dazu, dass sich der Vorwurf an die Behörden noch vergrößert: Hättet ihr doch, und warum habt ihr nicht? Ihr wart doch so nah dran!

Fehler passieren. Amri war einer. Schuldzuweisungen liegen in der unvollkommenen Natur des Menschen, doch bieten sie nur begrenzt hilfreiche Rezepte, wenn es um rechtsstaatlich fundierte Strategien zur Terrorabwehr geht. Die Aufarbeitung des Falls tut not, aber sie allein wird nicht klären, was noch geleistet werden kann. Die Abschiebehaft für Gefährder wie Amri gibt es bereits, doch die Zuständigen haben das Risiko falsch beurteilt. Warum eine Verschärfung? Maas’ Fußfessel-Idee könnte noch erweitert werden, doch kann ein Lkw-Attentäter auch mit Fessel aufs Gaspedal treten. Noch näher ran an die Islamisten? Die Tatbestände, die Terrorpläne unter Strafe stellen, sind verfassungsrechtlich auf Kante genäht. Auch eine allgemeine Gefährderhaft würde diese Nähte sprengen. Mehr Datenaustausch und Kooperation, das gewiss. Aber auch hier wird die Politik die Bahnen nicht verlassen können, die ihr das Grundgesetz zieht.

Zur Wahrheit gehört deshalb, dass die Summe nützlicher gesetzgeberischer Optionen überschaubar ist. Es wäre nur verheerend, dies mit Hilflosigkeit gleichzusetzen. Denn der Fall Amri belegt auch, wie tief die Behörden in die Szenen eindringen können. Sie haben, trotz ihres tragischen Irrtums und berechtigter Kritik, Vertrauen verdient. Und eine Politik, die Druck widersteht, statt ihn zu erzeugen.

Eine Reportage zu Amris krimineller Karriere in Berlin lesen Sie in der Tagesspiegel-Donnerstagausgabe auf Seite 3, im E-Paper oder im digitalen Kiosk Blendle.

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