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Große Freude: Emmanuel Macron und Mario Draghi am 26. November nach Unterzeichnung des Freundschaftsvertrages
© Domenico Stinellis/AFP

Auswirkung des Freundschaftsvertrags zwischen Paris und Rom: Die neue Allianz könnte die Führungsdynamik in der EU verändern

Die Südländer wollen mehr Verteidigungs- und Fiskalunion. Kanzler Scholz, der Montag nach Rom fährt, wird als möglicher Verbündeter gehandelt. Ein Gastbeitrag.

Melvyn B. Krauss ist emeritierter Professor für Wirtschaft der New York University.

Der italienische Ministerpräsident Mario Draghi und der französische Präsident Emmanuel Macron haben kürzlich einen Freundschaftsvertrag unterzeichnet – den so genannten Quirinale-Vertrag, der nach dem römischen Palast benannt ist und die industrielle und strategische Zusammenarbeit ihrer Länder fördern soll. Das bilaterale Abkommen, das am 26. November in Rom geschlossen wurde, umfasst neben Wirtschafts- und Außenpolitik auch auch Kultur- oder Gesundheitspolitk.

Doch diese neue Machtachse Paris-Rom könnte noch viel mehr bewirken, denn sie könnte die Führungsdynamik in der gesamten Europäischen Union verändern.

Nur zehn Monate nach seinem Amtsantritt hat sich Draghi zu einem der angesehensten und einflussreichsten Politiker Europas entwickelt. Unmittelbar vor dem G20-Gipfel in Rom Ende Oktober traf er sich privat mit US-Präsident Joe Biden - ein Tête-à-Tête, das vom hohen Ansehen des Italieners im transatlantischen Bündnis zeugt.

Der New York Times zufolge machte Biden deutlich, dass "Italien und die Vereinigten Staaten zeigen müssen, dass Demokratien erfolgreich funktionieren können, und dass Herr Draghi dies tut".

Der Vertrag soll auch die durch Merkels Abgang entstandene Lücke füllen

Aber Draghi zeigt der Welt nicht nur, dass Italien wie andere reiche, moderne Länder funktionieren kann. Der entschieden pro-europäische, pro-amerikanische und pro-NATO-Ministerpräsident hat auch kluge politische Schritte unternommen, die das Gesicht Europas und der EU verändern könnten. Zunächst einmal hat er eine enge Beziehung zu Macron aufgebaut.

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Durch ihre Zusammenarbeit haben die beiden Staats- und Regierungschefs eine hervorragende Gelegenheit, mehr Einfluss auf die EU-Politik - von der Wirtschaft bis zur Verteidigung - auszuüben, nachdem Angela Merkel nach 16 Jahren an der Macht als deutsche Bundeskanzlerin abgetreten ist. Der Quirinale-Vertrag ist ein konkretes Ergebnis ihrer neuen Zusammenarbeit, mit der sie die durch Merkels Rücktritt entstandene Lücke schließen wollen.

Wenn sie Erfolg haben, wird sich der Einflussbereich in der EU nach Süden verlagern - und zwar in Richtung einer stärkeren europäischen Integration. Hier sind sich Draghi und Macron einig, auch in der kritischen Frage der europäischen Verteidigung. Beide sind zuversichtlich, dass die EU in der Lage sein wird, unabhängig als militärische Kraft zu agieren und gleichzeitig ihr volles Engagement in der NATO aufrechtzuerhalten.

Der Quirinale-Vertrag wurde in historischem Ambiente der Villa Madama verkündet.
Der Quirinale-Vertrag wurde in historischem Ambiente der Villa Madama verkündet.
© AFP

Biden selbst scheint diese Ansicht zu teilen. Der Times zufolge "sagte Biden Herrn Draghi (während ihres Treffens im Oktober), dass er eine starke Europäische Union - sogar eine mit einer einheitlichen militärischen Verteidigung - als im Interesse der Vereinigten Staaten liegend betrachte". Angesichts der zunehmenden Konzentration der USA auf den asiatisch-pazifischen Raum ist eine einheitliche europäische Verteidigungsfähigkeit genau das, was die USA brauchen.

Da China unter Präsident Xi Jinping immer aggressiver wird, könnte eine europäische Verteidigungsstreitmacht die strategischen Lücken schließen, die durch die Bemühungen der NATO um eine Neuausrichtung auf Asien entstanden sind. Es ist falsch zu behaupten, dass Amerika mit seiner Hinwendung zu Asien Europa den Rücken kehrt. Die Unterstützung einer größeren militärischen Unabhängigkeit Europas bedeutet, dass die NATO sich auf China konzentrieren kann, das für Europa eine ebenso große militärische Bedrohung darstellt wie für die USA.

In jedem Fall wird die stillschweigende Unterstützung der Biden-Administration für eine einheitliche europäische Verteidigungsstreitmacht Draghi und Macron zusätzliche Munition liefern, um für diese Idee zu werben. In Anbetracht des möglichen starken Widerstands Deutschlands und einiger mitteleuropäischer Länder ist das Vorhaben jedoch keineswegs ein fait accompli.

Auf "Frau Nein" könnte "Herr Vielleicht" folgen

Das Potenzial der Draghi-Macron-Angleichung wird allerdings durch die Tatsache verstärkt, dass die neue deutsche Regierung ihrer Weltsicht weitaus wohlgesonnener sein könnte als Merkel es je war. Anstelle von „Frau Nein“, die die meisten Initiativen zur Vertiefung der EU-Integration ablehnt, werden sie in ihrem Nachfolger wahrscheinlich einen sympathischen "Herrn Vielleicht" antreffen.

Obwohl der sozialdemokratische Kanzler Olaf Scholz von den Vorteilen des Wandels, insbesondere einer tieferen Integration, überzeugt werden muss, wird er neue Ideen nicht sofort ablehnen, wie es in den letzten 16 Jahren unter Merkel meist der Fall war. Außerdem wird Scholz mit Koalitionspartnern zusammenarbeiten, die der Integration wesentlich offener gegenüberstehen (wenngleich die Freien Demokraten eine stärkere finanzielle Integration weiterhin skeptisch sehen).

Die deutsche Dreierkoalition aus Sozialdemokraten, Grünen und Freien Demokraten könnte sich als Segen für das europäische Projekt erweisen, und zwar nicht nur in der Verteidigungspolitik. In Fragen, die von der Fiskal- und Währungsunion über Eurobonds bis hin zu China und Russland reichen, werden Draghi und Macron nicht länger mit dem Kopf gegen eine Wand rennen.

Eine deutliche Beschleunigung der europäischen Integration ist also durchaus denkbar. Angesichts der möglichen Rückkehr von Donald Trump ins Weiße Haus im Jahr 2025 kann eine solche Entwicklung nicht früh genug kommen. Allein der Gedanke an diese Aussicht dürfte den meisten Europäern einen gehörigen Schrecken einjagen und sie zu einer immer schnelleren Integration drängen, ungeachtet der Hindernisse. Wer könnte es ihnen verdenken? Copyright: Project Syndicate, 2021.www.project-syndicate.org

Melvyn B. Krauss

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