Rechtsextremismus nach der Europawahl: „Die nächsten 18 Monate werden besonders gefährlich“
Extremismus-Experte Gideon Botsch warnt: Die nach der Europawahl von Misserfolgen frustrierte rechte Szene könnte sich deutlich radikalisieren.
Vor zwei Wochen wurde der Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke erschossen. Die Ermittler gehen von einem rechtsextremistischen Hintergrund aus. Der Regierungspräsident war in der Vergangenheit wegen seiner Haltung zu Flüchtlingen bedroht worden. Extremismus-Experte Gideon Botsch sieht im Moment ein erhöhtes Potenzial für rechten Terror in Deutschland. Im Interview spricht er über die Enttäuschung der rechten Szene nach der Europawahl und die NSU-Ermittlungen.
Herr Botsch, welches Potenzial gibt es aktuell für rechten Terror in Deutschland?
Ein enorm hohes. Auf der einen Seite haben wir die klassischen Strukturen der Neonazis, die schon bewiesen haben, dass zu Mordanschlägen willens und in der Lage sind. Dazu kommen die verschiedenen Formen rechter Mobilisierung aus den vergangenen Jahren wie wir sie etwa bei den Straßenprotesten von Pegida gesehen haben. Es ist wahrscheinlich, dass mit dem Abflauen der Aufmerksamkeit für solche Gruppen die terroristischen Akte zunehmen werden. Hinzu kommt, dass die Zahl der Wählerstimmen der AfD zuletzt bei der Europawahl im Mai im Vergleich zur Bundestagswahl zurückgegangen sind. Das frustriert die Szene.
Warum sollte die Gefahr für Terror steigen, wenn die Unterstützung für Rechte zurückgeht?
Bis Mitte 2018 haben diese Gruppen den Umsturz propagiert. Man wolle das Merkel-Regime ablösen. Das hat nicht funktioniert. Dieser Frust könnte nun einige Zellen erneut mobilisieren und diese weiter radikalisieren. Eine ähnliche Dynamik haben wir in den Neunzigern beobachtet. Aktuell reanimieren Rechte bereits wieder ihre internationalen Kontakte, etwa um das terroristische Netzwerk „Combat 18“. Die nächsten zwölf bis 18 Monate werden besonders gefährlich. Die Feindbilder sind markiert. Da hat die AfD deutlich mitmarkiert, da hat Pegida mitmarkiert. All diese Kräfte, die sich offiziell von Gewalt distanzieren, haben sehr deutlich zur Hetze beigetragen.
Der jetzt in Kassel festgenommene Tatverdächtige soll im Umfeld der NPD aktiv gewesen sein. Welche Bedeutung hat die Partei für terroristische Aktionen?
Seit den Sechzigern finden wir Leute aus dem Partei-Umfeld, die sich von da ausgehend weiter radikalisiert haben. Teilweise sind Menschen auch aus dem Terrorismus gekommen und zur NPD zurückgekehrt. Das sollte man nicht unterschätzen.
Helfen diese Parteistrukturen nur bei der Vernetzung oder auch bei der Beschaffung von Waffen?
Es ist natürlich so, dass ein NPD-Funktionär an der Schusswaffenbeschaffung für den NSU beteiligt war. Ich gehe aber nicht davon aus, dass die Beschaffung der Waffen über Strukturen der NPD läuft. Es ist eine Szene, wo Waffen massiv verbreitet sind, illegale Waffen ebenso wie legale Waffen. Wir wissen von vielen Aktivisten dieses Lagers, die in Schützenvereinen sind.
Welche Gefahr für rechte Morde gibt es für die Gebiete Brandenburg und Berlin?
Die Risiko ist definitiv gegeben. Wir haben hier ultramilitante Netzwerke. In Berlin sehen wir eine bis heute nicht aufgeklärte Serie von schweren Brandanschlägen bis hin zu Sprengstoffanschlägen in Neukölln. Beim Mord im Fall Burak Bektas wissen wir immer noch nicht, ob dieser rassistisch motiviert war.
In Kassel tötete auch der NSU sein neuntes Opfer. Was hat sich seitdem durch die Ermittlungen in der Szene verändert?
Die rechtsextreme Szene ist völlig unbeeindruckt von den NSU-Ermittlungen. Das hängt damit zusammen, dass die Generalbundesanwaltschaft von vornherein nur gegen einen sehr engen Personenkreis ernsthaft ermittelt hat. Für alle aus dem näheren und weiteren Umfeld des NSU war das Signal: Ihr müsst euch keine Sorgen machen.
Gucken wir bei Rechtsextremismus zu viel auf den Osten Deutschlands?
Wir gucken vor allem mit dem falschen Blick auf den Osten. Mich persönlich haben die 15 Prozent für die AfD bei der Landtagswahl in Baden-Württemberg deutlich mehr beunruhigt als die fast 25 Prozent in Sachsen-Anhalt. Auch weil Baden-Württemberg eine viel größere politische Bedeutung hat. Zudem wissen wir dass die Region um Süd-Niedersachsen und Nord-Hessen seit vielen Jahrzehnten stark durch rechtsextreme Milieus geprägt ist. Da unterscheidet sich der Westen nicht von der sächsischen Schweiz.