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Mehr als eine Million Gazaner sind auf humanitäre Hilfe angewiesen.
© Said Khatib/AFP

Not in Gaza: "Die Menschen glauben, dass sie nichts mehr zu verlieren haben"

Matthias Schmale vom UN-Hilfswerk für Palästinaflüchtlinge im Gespräch über die Verzweiflung in Gaza, die steigende Zahl Bedürftiger und die Kriegsgefahr.

Herr Schmale, die Kampf zwischen der Hamas und Israel scheint zu eskalieren. Für wie groß halten die Menschen im Gazastreifen die Gefahr,
dass es zu einem Krieg kommt?

Um die gegenwärtige Situation einschätzen zu können, dies vorweg: Vor rund zwei Wochen sind ungewöhnlich viele Gazaner unter dem Motto „Wir wollen leben“ auf die Straße gegangen. Das macht den Frust und die Hoffnungslosigkeit mehr als deutlich.

Von Tag zu Tag wächst die Zahl der Menschen, die glauben, dass sie nichts mehr zu verlieren haben. Das ist ein Nährboden für Mobilisierung, Gewalt und sogar einen möglichen Krieg. Vor allem kommenden Freitag und Samstag könnte kritisch werden.

Inwiefern?

Der 30. März ist der erste Jahrestag des „Marschs der Rückkehr“. Die Hamas plant aus diesem Anlass eine große Aktion mit einer Million Menschen, die an der Grenze zu Israel protestieren sollen. Wenn sich dann womöglich tatsächlich zumindest Tausende auf die Sperranlage zu bewegen, dann werden israelische Soldaten sie vermutlich mit dem Einsatz von Waffen davon abhalten. Passiert das, dürften viele Opfer zu beklagen sein.

Auf israelischer Seite ist die Situation ebenfalls heikel und angespannt. So kurz vor der Wahl am 9. April ist der Druck auf Premier Netanjahu sehr groß. Viele Bürger fordern ein härteres Vorgehen gegen die Hamas. Die Gefahr eines Krieges war schon lange nicht mehr so hoch.

Warum sind die Menschen in Gaza so verzweifelt?

Immer mehr Einwohner sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. Wir versorgen mittlerweile mehr als eine Million Bedürftige mit Lebensmitteln. Das ist mehr als die Hälfte der Bevölkerung.

Unsere Gesundheitsstationen melden, dass die Menschen immer häufiger erhebliche psychologische und psychosomatische Probleme haben – bis hin zu versuchten Selbsttötungen. Es gibt zugleich verstärkt Gewalt gegen andere, etwa in Familien und Schulen. Häufig sind Kinder die Opfer.

Dass die Leute es jetzt sogar wagen, gegen die mit harter Hand herrschende Hamas auf die Straße zu gehen, zeigt ebenfalls, wie verzagt sie sind.

Matthias Schmale ist höchster Repräsentant des UN-Hilfswerks für Palästina-Flüchtlinge in Gaza. Er organisiert die Hilfe der Vereinten Nationen im verarmten Küstenstreifen.
Matthias Schmale ist höchster Repräsentant des UN-Hilfswerks für Palästina-Flüchtlinge in Gaza. Er organisiert die Hilfe der Vereinten Nationen im verarmten Küstenstreifen.
© Mohammed Salem/Reuters

Unter den Protestierenden sind viele junge Menschen. Was treibt sie um?

Es sind überwiegend junge Männer, die entweder gegen die Hamas demonstrieren oder Richtung Grenzzaun ziehen. Sie haben keinerlei Aussicht auf ein würdiges Leben. Vor allem Jobs sind Mangelware.

Die Arbeitslosigkeit bei unter Dreißigjährigen liegt bei 70 Prozent. Und deren Frust entlädt sich immer häufiger in Protesten mit leider hohem Gewaltpotenzial.

Das Gespräch führte Christian Böhme.

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