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Etwa die Hälfte der Geflüchteten verrichtet Fachkrafttätigkeiten.
© Patrick Pleul/dpa-Zentralbild/dpa

Forschung über Migranten: „Die meisten Flüchtlinge bringen starke demokratische Grundeinstellungen mit“

Wie viele Geflüchtete arbeiten? Welche Rolle spielt der Familiennachzug? Über Migration wird viel gestritten, Experte Brücker kennt die Details. Ein Interview.

Herbert Brücker ist Direktor des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM) an der Humboldt Universität – zusammen mit der Sozialwissenschaftlerin Naika Foroutan – und leitet den Bereich „Migration, Integration und internationale Arbeitsmarktforschung“ am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg.

Herr Brücker, die Arbeitsintegration von Geflüchteten lief bisher überdurchschnittlich. Stimmt das noch? Wie sind die aktuellen Zahlen?

Im April sind 36 Prozent der Einwanderer aus den Asylherkunftsländern, die seit 2015 zugezogen sind, in bezahlter Arbeit – nach der deutschen Definition, die ab dem ersten Euro Lohn gilt. Von ihnen sind wiederum etwa 80 Prozent sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Der Anteil der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten liegt etwas geringer als in der gesamten arbeitenden Bevölkerung.

In den Wintermonaten stagnierte die Arbeitsmarktintegration der Geflüchteten leicht, im April– der übliche Frühjahrseffekt – zog die Beschäftigung wie im Vorjahr wieder um 10.000 Personen an.

Insgesamt ist damit zu rechnen, dass die Integrationsgeschwindigkeit etwas abnehmen wird. 2018 kamen viele aus den Integrationskursen oder hatten ihre Asylverfahren beendet – das wirkte sich aus. Der Beschäftigungsaufbau wird sicher nicht linear verlaufen, es ist nur die Frage, wann und auf welchem Niveau er etwas abflachen wird. Insgesamt verläuft die Integration aber ein Stück schneller als in früheren Flüchtlingsgenerationen.

Haben Sie eine Prognose noch für dieses Jahr?

Ich schätze, dass im Oktober etwa 40 Prozent der seit 2015 zugezogenen Geflüchteten beschäftigt sind.  

Es gibt immer wieder die Frage: Lohnt sich das alles? Viele haben keinen dauernden Schutz und werden, womöglich auch weil sie selbst das wollen, in ihre Heimatländer zurückkehren.

Erstens haben nach den Angaben des Statistischen Bundesamtes 78 Prozent der knapp 1,8 Millionen Schutzsuchenden in Deutschland einen anerkannten Schutzstatus, 17 Prozent stecken noch in den Anerkennungsverfahren. Nur bei 11 Prozent der sich noch in Deutschland aufhaltenden Schutzsuchenden wurde der Asylantrag abgelehnt, sie haben eine Duldung oder sind vollziehbar ausreisepflichtig. Um die dreht sich aber der Großteil der öffentlichen Debatte.

Das verstellt den Blick auf die Realität: Dass nämlich der ganz große Teil der Menschen mit einem rechtmäßigen Schutzanspruch vernünftig integriert werden muss. Vielleicht kann ein Teil von ihnen später in die Heimatländer zurückkehren – das ist aber, wenn wir beispielsweise die größte Gruppe betrachten, die Syrer, mehr als fragwürdig. Wie auch immer: 11 Prozent, die keinen Anspruch auf Schutz haben, sind jedenfalls nicht die Hauptdiskussion.

Sie und Ihre Kolleginnen und Kollegen haben sich auch genauer angesehen, wer die Menschen typischerweise sind, die in Europa und Deutschland ankommen. Wer sind sie?

85 Prozent kommen aus Ländern, in denen nach den einschlägigen Erhebungen des US-Außenministeriums und von Nichtregierungsorganisationen wie Freedom House die ganze oder große Teile der Bevölkerung terrorisiert wird, in denen Bürgerrechte nicht gelten oder Krieg herrscht. Ihnen ist Einiges widerfahren, nach unseren Erhebungen leiden viele unter posttraumatischen Belastungsstörungen, überdurchschnittlich oft sind davon Frauen betroffen. Fünfzehn Prozent haben Schiffbruch erlitten.

Wegen der hohen Risiken einer Flucht sind 70 Prozent der erwachsenen Geflüchteten Männer, die wiederum überwiegend jung und ledig sind. Der Familiennachzug wird deshalb in seinen Größenordnungen weit überschätzt - wenn Geflüchtete Ehepartner oder Kinder haben, dann sind sie bereits zu großen Teilen hier. 70 Prozent der Frauen, aber nur 30 Prozent der Männer haben minderjährige Kinder.

Herbert Brücker, Direktor des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM) an der Humboldt Universität
Herbert Brücker, Direktor des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM) an der Humboldt Universität
© privat

Was bringen sie an Vorbildung mit?

Sie sind im Schnitt besser gebildet und ausgebildet als die Bevölkerung ihrer Heimatländer, und zwar deutlich. Der Akademikeranteil ist etwa doppelt so hoch, Analphabeten machen bestenfalls 15 Prozent aus. Die Schulbildung ist allerdings polarisiert: Es gibt zwar einen Anteil von 40 Prozent, die weiterführende Schulen besucht haben, aber auch 25 Prozent, die nur eine Grundschule oder gar keine Schule besucht haben.

Nur 25 Prozent haben einen Hochschul- oder Berufsabschluss. Sie bringen zwar oft keine Zertifikate und Abschlüsse mit. Allerdings haben 74 Prozent der Männer und 37 Prozent der Frauen unter den Geflüchteten über 18 Jahren Berufserfahrung, im Schnitt sogar zehn Jahre. Das ist bei dieser jungen Kohorte erstaunlich.

Im Vergleich zum deutschen Schnitt, meinen Sie?

Ja, aber nicht nur der Umfang, sondern auch die Art der Berufserfahrung: Die Anforderungen der ausgeübten Tätigkeiten sind denen der deutschen Arbeitnehmer sehr ähnlich. 15 Prozent haben Helfertätigkeiten ausgeübt, in Deutschland sind das zehn Prozent. Zwei Drittel waren als Fachkräfte, 20 Prozent als Experten und Spezialisten, also das, was bei uns Uni-Absolventinnen und Meister sind, beschäftigt. Das entspricht weitgehend der deutschen Arbeitsmarktstruktur.

Wer schon im Heimatland arbeitete, bringt Qualifikationen mit, die sie oder er on the job erworben haben und die unseren entsprechen, auch wenn nicht überall die gleichen Technologien oder Organisationsformen eingesetzt wurden. Und sie können sie teils in den deutschen Arbeitsmarkt einbringen.

Wieso nur teils?

Migration bringt praktisch immer Dequalifikation mit sich. Aber wie gesagt, zum Teil gelingt es: etwa die Hälfte der erwerbstätigen Geflüchteten üben in Deutschland Fachkrafttätigkeiten aus, obwohl ihnen die beruflichen Abschlüsse fehlen.

Gibt es Weiteres, was für die Arbeitsmarktintegration dieser Menschen von Bedeutung ist?

Wir haben uns ihre Einstellungen und Werte der Menschen angesehen. Interessant ist, dass die meisten starke demokratische Grundeinstellungen mitbringen und der Achtung von Minderheitenrechten große Bedeutung beigemessen wird. Das gilt auch für sehr religiöse Geflüchtete  - viele gehören ja religiösen Minderheiten in ihren Heimatländern an.

Es gibt tatsächlich etwas mehr Deutsche als Geflüchtete, die sich in Befragungen für das Führerprinzip aussprechen. Auch sind die Genderwerte zumindest auf abstrakter Ebene fortschrittlicher als häufig vermutet wird: Töchter sollen genauso gut gebildet werden wie Söhne, viele sind für die Erwerbstätigkeit von Frauen. Allerdings sind andere Familienwerte sehr konservativ: Abtreibung oder Scheidung werden häufig strikt abgelehnt, das gleiche gilt für Homosexualitität. 

Könnte es nicht sein, dass man eines sagt, ein anderes lebt? Die Erwerbsquote der Frauen ist ja nicht so hoch, wie die Befragungen erwarten ließen.

Wir finden eine starke Benachteiligung von Frauen in jeder Hinsicht: Sie haben nur halb so oft wie die Männer Berufserfahrung in ihren Heimatländern gesammelt, besuchen die Integrations- und Sprachkurse seltener und sind sehr viel seltener beschäftigt. Da gibt es ein Gefälle zwischen Männern und Frauen, das nicht zu den Genderwerten passt, die ich erwähnte.

Wir gehen davon aus, dass dieses Gefälle nicht auf einen einzelnen Faktor, sondern auf eine Kumulation von Benachteiligungen zurückzuführen ist. Zum bringen sie diese Nachteile schon aus ihren Heimatländern mit, etwa durch die viel geringeren Anteile mit Berufserfahrung. Ein zentraler Faktor ist die hohe Kinderzahl von Frauen, sie haben in der Regel zwei bis drei Kinder, häufig Kleinkinder. Das wirkt sich negativ auf die Erwerbsbeteiligung aus, übrigens auch für geflüchtete Männer, die aber sehr viel seltener Kinder haben.

Nun sind auch Frauen, die in Deutschland aufgewachsen sind, wenn sie Kleinkinder haben, seltener erwerbstätig. Aber die Auswirkungen sind bei den Geflüchteten stärker als in der Mehrheitsgesellschaft. Natürlich wird das auch etwas mit den im Alltag gelebten Gender-Werten zu tun haben. Noch etwas anderes ist im Punkt Verhaltensmerkmale von Geflüchteten interessant…

Für ihre Chancen auf Arbeit?

Ja. Während alle anderen sozio-psychologischen Eigenschaften – Selbstvertrauen, Offenheit, Gewissenhaftigkeit, Geselligkeit, Kooperationsbereitschaft, geringe Neigung zu emotionaler Verletzlichkeit - günstig für einen Erfolg am Arbeitsmarkt sind, gibt es eine Ausnahme: Geflüchtete sind im Durchschnitt weniger risikobereit.

Obwohl sie für die Flucht hohe Risiken auf sich genommen haben?

Womöglich gerade deswegen. Wir können bisher nur vermuten, aber das könnte mit ihren Erfahrungen durch Krieg und Verfolgung in den Heimatländern und den hohen Risiken der Flucht zu tun haben. Wer reale Risiken erlebt hat, möchte sich dem nicht unbedingt wieder aussetzen. Erinnern Sie sich an Westdeutschland nach dem Krieg und den Wahlslogan der CDU Adenauers damals: „Keine Experimente“.    

Wir haben jetzt lange darüber gesprochen, was die Geflüchteten mitbringen, um hier arbeiten zu können. Was bringt die deutsche Aufnahmegesellschaft mit, was ist mit Rassismus und struktureller Diskriminierung?

Über Diskriminierung am Arbeitsmarkt und anderen gesellschaftlichen Bereichen gibt es eine umfangreiche Literatur. Wie sie auf Flüchtlinge wirkt, ist weniger erforscht, aber vieles, was wir wissen, ist sicher übertragbar.

Einer meiner Mitarbeiter hat zum Beispiel untersucht, wie hoch das Vertrauen zu verschiedenen Gruppen von Nichtdeutschen ist und dies auch regional eingegrenzt. Es stellte sich heraus, dass in Regionen, wo etwa das Vertrauen, das Türken entgegengebracht wird, geringer ist, auch deren Chancen die Arbeitslosigkeit zu verlassen, deutlich herabgesetzt sind.

Da wir nicht annehmen können, dass eine Türkin, sagen wir, in Schleswig-Holstein, andere nicht beobachtbare Eigenschaften hat als eine in Bayern, muss es Diskriminierung sein, die den Arbeitsmarkterfolg einer ethnisch definierten Gruppe beeinträchtigt.

Die Mechanismen sind unterschiedlich. Es muss nicht immer nur am Arbeitgeber liegen. Es gibt zum Beispiel auch Diskriminierung am Arbeitsplatz, wo die Kollegen etwas gegen Fremde haben oder die Kundschaft, so dass ein Arbeitgeber, auch wenn er das anders sieht, nur Angehörige der Mehrheitsgruppe einstellt.

Wir wissen noch nicht alles, aber es gibt auf jeden Fall einen Zusammenhang zwischen der allgemeinen gesellschaftlichen Stimmung gegenüber Minderheiten und dem Arbeitsmarkt. Natürlich können wir durch Diskriminierung nicht die ganzen Unterschiede im Arbeitsmarkterfolg von unterschiedlichen nationalen oder ethnischen Gruppen erklären, aber sie spielt eine wichtige Rolle.

Nun ist die Integration Geflüchteter am Arbeitsmarkt das eine. Deutschland will aber auch Arbeitsmigration fördern, weil wir sie brauchen. Jetzt gibt es das Fachkräfteeinwanderungsgesetz. Wird es helfen?

Ich fürchte, man wird es in absehbarer Zeit novellieren müssen. Es wird nach meiner Einschätzung so nicht funktionieren.

Wieso?

Weil der alte Zielkonflikt weiter das Gesetz prägt: Einerseits will man Einwanderung, weil die Erwerbsbevölkerung drastisch schrumpft, andererseits gibt es die große Angst, dass Leute zu uns kommen, die sich nicht integrieren und dem Sozialstaat zur Last fallen.

Das ist nicht ganz unrealistisch, oder?

Natürlich, wir müssen versuchen, die Arbeitsmarktintegration zu fördern und die Risiken für den Sozialstaat zu senken.  Aber aus ökonomischer Perspektive gehen wir anders als viele Juristen davon aus, dass man kann sich nicht gegen jedes Risiko absichern kann. Wir denken in Wahrscheinlichkeiten. Sonst stellt man Hürden auf, die später nur eine kleine Minderheit der qualifizierten Fachkräfte schafft. Wir haben nichts davon, wenn wir Hürden aufstellen, die nur Bill Gates schafft, aber wenn wir zugleich große produktive Potenziale verschenken.

Was hätte stattdessen passieren müssen?

Wir müssen die Hürden, nach Deutschland zu kommen, deutlich senken. Die größte Hürde ist die Forderung, dass vor dem Zuzug Berufs- und Hochschulabschlüsse als gleichwertig anerkannt sein müssen. Das funktioniert aus zwei Gründen nicht: Erstens sind die Bildungs- und Ausbildungssysteme im Ausland mit dem deutschen nicht vergleichbar, insbesondere mit dem dualen Berufsbildungssystem. Insofern liegen häufig andere, aber keine genau vergleichbaren Abschlüsse und Qualifikationen vor.

Dafür gibt es aber seit ein paar Jahren ein Gesetz, das allen, die ihre Abschlüsse im Ausland gemacht haben, garantiert, dass die hier geprüft und teilweise oder ganz anerkannt werden.

Das ist der zweite Punkt: Dieses Anerkennungsverfahren langwierig und aufwändig. Im vergangenen Jahr wurden nur einige tausend Anträge auf Anerkennung aus dem Ausland gestellt. Es ist kaum vorstellbar, dass durch die in dem Gesetz angestrebte Vereinfachung der Bürokratie diese Zahl auf eine Größenordnung von über hunderttausend Anträge steigen wird.

Die pragmatische Alternative wäre gewesen, dass Personen einreisen können, die über einen landesüblichen Abschluss und einen qualifikationsadäquaten Arbeitsvertrag oder Arbeitsplatzzusage in Deutschland verfügen. So machen es auch die klassischen Einwanderungsländer.

Unsere empirische Evidenz zeigt, dass Menschen, die über eine Arbeitsplatzzusage und eine berufliche Bildung verfügen, auch langfristig eine sehr günstige Beschäftigungsprognose haben. Das Risiko, dass auch mal jemand kommt, der sich nicht integriert und Kosten verursacht, statt Steuern zu zahlen, ist viel kleiner als das makroökonomische: Dass nämlich die Leute nicht kommen, die wir dringend brauchen.

Bis 2060 wird das Potenzial erwerbsfähiger Menschen in Deutschland um 40 Prozent sinken, wenn es keine Migration gibt – was natürlich hypothetisch ist, denn es gibt ja immer Wanderungsbewegungen. Wir brauchen jährlich eine Nettozuwanderung von 400.000 Menschen, um den demografisch bedingten Rückgang des Erwerbspersonenpotenzials auszugleichen. Auch dann steigt der Altersquotient, also das Verhältnis der Rentner zu den Erwerbstätigen, immer noch um 20 Prozentpunkte.

Ohne Migration werden in Deutschland das Niveau der sozialstaatlichen Transferleistungen zurückgehen und die Verteilungskämpfe härter werden – zwischen den Generationen, aber auch zwischen Reich und Arm innerhalb der jungen Generationen.

Machen wir uns nichts vor: Ein Großteil der Transferleistungen entfällt nicht auf Hartz IV, sondern auf die Rentenkassen, die Pflegeversicherung, die Krankenversicherungen, also Systeme, deren Kosten mit dem Alter steigen und von der Zahl der Erwerbstätigen abhängig sind.

Trotzdem hörte ich in den vielen Expertenkommissionen zum Thema, in denen ich in den letzten Jahren saß, immer: Aber wenn wir hier und da einen kleinen Kanal öffnen – kommt dann nicht doch vielleicht jemand ins Land, der den Sozialstaat missbraucht? Was dabei regelmäßig übersehen wird: Es kommen auch die nicht, die unsere Renten eines Tages bezahlen werden.

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