Nachfolger-Suche: Die Lösungsnot von Angela Merkel
Um 15 Uhr lässt die FDP die Bombe platzen und sagt: Gauck muss es werden. Prompt schlägt die Union zurück: Mit uns nicht! Kurz liegt ein Hauch von Koalitionsbruch in der Luft. Aber dann hat Angela Merkel eine Idee.
- Antje Sirleschtov
- Robert Birnbaum
Das Stadttheater in der Wiener Walfischgasse hat eine ehrwürdige Tradition. 1720 ist die heutige Kleinkunstbühne als „Komödienhaus am Kärtnertor“ gegründet worden. Das passt ganz gut zu diesem Wochenende. Am Sonntag um elf Uhr liest Joachim Gauck dort aus seiner Autobiographie; „Winter im Sommer – Frühling im Herbst“ heißen die Erinnerungen des 72-jährigen Ex- Pfarrers, Ex-DDR-Bürgerrechtlers und Ex-Chefs der Stasi-Unterlagenbehörde. Aber die Leute mit den Kameras und Mikrofonen, die sich heute hier einfinden, interessiert nicht die Vergangenheit des Mannes mit dem zerfurchten Gesicht, sondern seine eventuelle Zukunft. Gauck lacht. „Rufen Sie doch Frau Merkel an!“
Zwei Stunden später fahren gut 500 Kilometer weiter nördlich dunkle Limousinen ins Berliner Kanzleramt. Mit Komödie hat wenig zu tun, was sich hier seit drei Tagen zuträgt. Mit Schauspielerei schon. Philipp Rösler steigt aus dem Auto. Er hat sich ein paar Sätze zurechtgelegt. Die FDP gehe „ohne jede Vorfestlegung“ in die weiteren Gespräche über einen Bundespräsidentenkandidaten, sagt der FDP-Chef, und dann versichert er noch, dass es nicht um Parteitaktik gehe, „ausdrücklich“ nicht, nur um ein einziges Ziel: die Würde und Autorität des höchsten Staatsamts wieder herzustellen.
Wenn einer so viele Worte um die eigene Lauterkeit macht, hat das wahrscheinlich einen Grund. Es könnte zum Beispiel sein, dass Rösler vorbeugen will. Er weiß, in der Union laufen schon welche rum, die verbreiten, diese Kleinstpartei FDP gebe den Blockierer. Wenig später meldet sich auch noch die Grünen-Chefin Claudia Roth empört zu Wort: Aus der Nachfolgesuche werde eine Castingshow, unwürdig sei das, vor allem diese FDP nehme sich ein „permanentes Veto“ heraus – da helfe nur ein Gespräch der Kanzlerin mit den Grünen.
Die Suche nach dem richtigen Kandidaten in Bildern:
Wenn die FDP etwas fürchtet, dann das. Claudia Roth ist das völlig klar. Ihr Vorschlag ist eins von den vielen vergifteten Angeboten, die in diesen Stunden vor und hinter den Kulissen unterbreitet werden. Je länger die Suche nach einem neuen Staatsoberhaupt sich hinzieht, desto deutlicher wird, dass Parteitaktik dabei eine Hauptrolle spielt.
Dabei hatte sich alles so schön, ja geradezu versöhnlich angelassen nach den hässlichen Wochen der Agonie des Christian Wulff. Eine halbe Stunde nachdem am Freitag der Mann zurücktrat, den Merkel zwei Jahre zuvor im dritten Wahlgang ins Schloss Bellevue gekämpft hatte, verkündet die Kanzlerin, diesmal solle alles anders werden: Ein gemeinsamer Kandidat soll her, einvernehmlich ausgesucht mit SPD und Grünen.
Das kann man als staatstragende Opposition gar nicht ablehnen. Aber auch in diesem Angebot kann allerlei Gift stecken. Für SPD und Grüne ist klar: Wer immer am Ende herauskommt – es darf nicht so aussehen, als nicke der Majestät Opposition nur den Vorschlag der Kanzlerin ab. Dieselbe Sorge hat allerdings auch die FDP des Philipp Rösler. Sie fürchtet jedes Signal, das als schwarz-grün verstanden werden könnte oder als großkoalitionär oder als sonst eines, das sie aufs Abstellgleis verweist.
Trotzdem hätte es in Frieden weiter gehen können. Sicher, der SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier hat schon am Abend nach Merkels Friedensangebot erst gefordert, dass man ohne Vorbedingungen reden müsse und dann eine Vorbedingung gestellt: Aus dem Kabinett dürfe der Kandidat nicht kommen. Das klang stürmisch, war aber wohlfeil. Kabinettsmitglieder standen nie auf der Liste, über die Merkel schon am Freitagabend mit Rösler und CSU-Chef Horst Seehofer redete. Alles war also immer noch auf dem besten Weg.
Denn Andreas Voßkuhle, der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, wäre Wunschkandidat der Koalitionäre gewesen. Wieder so ein Angebot, das die Opposition kaum hätte ablehnen können: Den Top-Juristen hat die SPD nach Karlsruhe geschickt, ein kluger Mann, gewandter Redner und mit 48 Jahren sogar noch jünger als der Vorgänger. Merkel hat angefragt, nachdem der zweite denkbare Konsenskandidat, Bundestagspräsident Norbert Lammert, erwartungsgemäß abgewinkt hatte. Voßkuhle bat um kurze Bedenkzeit. Dann sagte er ab.
Die Absage sollte sich als Sprengsatz erweisen. Drei Namen lagen da noch im koalitionären Korb, alle drei eher Ausdruck von Ratlosigkeit: Klaus Töpfer, der ehemalige CDU-Umweltminister. Wolfgang Huber, der frühere Bischof und Chef der Evangelischen Kirche in Deutschland. Und der Mann, den SPD und Grüne vor zwei Jahren gegen Wulff ins Rennen geschickt hatten: Joachim Gauck. Die ersten beiden fand die FDP nicht gut, besonders Töpfer nicht, diese Verkörperung eines schwarzen Grünen. Rösler hat ihn zu Dreikönig als „konservativen Weltverbesserer“ beschimpft, Töpfer hat sich revanchiert, als er den Wirtschaftsminister ein „Hindernis“ für die Energiewende nannte.
Aber auch Huber passt den Liberalen nicht – ein Bischof als Staatschef! Noch viel weniger passt der Kirchenmann den Grünen. Sie haben ihm nicht vergessen, dass er gegen den EU-Beitritt der Türkei ist, dafür aber freundlich zu den Evangelikalen. Ohnehin haben sie bei der Öko-Partei den Verdacht, dass Huber ursprünglich eine Idee der SPD war. Warum sonst hätte SPD-Chef Sigmar Gabriel am Samstag in der gemeinsamen Pressekonferenz mit der Grünen-Spitze urplötzlich verlangt, ins Schloss Bellevue solle möglichst auch „kein aktiver Politiker“ einziehen? „Mit uns war das nicht abgesprochen“, sagt ein Grünen-Mann.
Doch das sind kleine Raufereien im Oppositionslager, am Ende harmlos. So wie auf der anderen Seite viele nur gefeixt haben, als im CSU-Präsidium dem Verkehrsminister Peter Ramsauer verlegenheitshalber noch die Frankfurter CDU-Oberbürgermeisterin Petra Roth einfiel. Am Sonntag vergeht ihnen das Lachen.
Ein strenger Geruch liegt über Berlin und dem Kanzleramt
Mittags treffen sich die Koalitionäre wieder. Neue Namen gibt es nicht. Neue Positionen auch nicht. Die FDP lehnt Töpfer und Huber ab, die Union mag Gauck nicht. Merkel hat nicht einmal etwas Prinzipielles gegen den Mann; sein Verlag wirbt mit Lob aus ihrem Mund: „ ... hat sich in herausragender Weise und auch in unverwechselbarer Weise für unser Land verdient gemacht“. Aber kann sie ihrer Partei diese Niederlage zumuten? Das Eingeständnis, dass nicht nur Wulff ein Fehler war, sondern diese ganze Präsidentenwahl 2010? „Das wäre eine zu große Demütigung“, glaubt ein wichtiger Christdemokrat. Andere finden, Merkel könnte das Risiko durchaus eingehen: „Sie steht im Moment so stark da, dass ihr keiner einen Strick daraus drehen würde“, sagt ein Unionspolitiker.
Der Mann wusste da noch nicht, dass Philipp Rösler für 15 Uhr das FDP-Präsidium zur Telefonschaltkonferenz bestellt hatte. Wenig später schreckt eine Eilmeldung alle auf: Die FDP-Spitze hat sich für Gauck ausgesprochen. Einstimmig. Das ist nicht nur eine Vorfestlegung, also ein Verstoß gegen die Spielregeln. Das ist eine Kampfansage. Und es gibt Leute in der FDP-Spitze, die es genau so verstanden wissen wollen: „Nach zwei Fehlentscheidungen, die Frau Merkel getroffen hat, geht es jetzt darum, eine richtige Entscheidung zu treffen“, sagt ein FDP-Präsidiumsmitglied. „Das ist keine Koalitionsfrage“, fügt der Mann noch an.
Formal stimmt das. Vom Bundespräsidenten steht nichts im Koalitionsvertrag. Aber Koalitionen leben nicht von Formalien. „Die FDP sollte den Bogen nicht überspannen“, warnt einer aus der Union im ersten Schreck: Der Umfrage-Zwerg führt den Großen vor!
Merkel aber greift zum Telefon. Sie weiß, dass es jetzt ernst wird und die Zeit knapp. „Irgendwann kommt der Zeitpunkt, da blasen wir den Konsens von uns aus ab“, hat ein Grüner schon am Nachmittag gedroht. Für 20 Uhr lädt Merkel alle ins Kanzleramt: die Schwarzen, die Gelben, die Roten, die Grünen. Die CDU-Chefin, heißt es, wolle weiter den parteiübergreifenden Konsens. Aber auch das CDU-Präsidium telefoniert sich zusammen. Merkel, berichten Teilnehmer, hat noch mal deutlich gemacht, dass sie Gauck nicht wolle, eigentlich. Und zweitens: Schuld an der Lage sei die FDP.
Plötzlich hängt ein strenger Geruch in der Luft. Neulich hat im Saarland eine CDU-Regierungschefin ihre FDP vor die Tür gesetzt. Merkel hat der Parteifreundin damals eindringlich abgeraten: Man gebe keine Koalition ohne allergrößte Not auf. Soll sie jetzt selbst gegen ihren eigenen Ratschlag handeln? Das CDU-Präsidium stimmt nicht ab. Es will seine Vorsitzende nicht festlegen. Das soll sie selber tun – und das macht sie auch.
Es ist 21 Uhr 15, da tritt eine ganz große Koalition im Kanzleramt vor die Kameras. Ein älterer Herr sitzt in der Mitte. Merkel versucht ihn anzulächeln. So richtig gelingt das noch nicht. „Nach intensiver Überlegung und Abwägung“ habe man sich gemeinsam entschieden für den Mann, mit dem sie das Thema der Freiheit in Verantwortung verbinde. „Bei aller Verschiedenheit“, fügt sie ein. Die Geschichte dieser Kandidatenkür lässt sich ja sowieso nicht leugnen. Sie hat über ihren Schatten springen müssen.
Die Sieger des Tages verkneifen sich den Triumph, ihre gute Laune aber nicht. „Überschrift könnte lauten: Ende gut, alles gut“, grinst Sigmar Gabriel. „Sie spüren’s, Sie sehen’s, wir freuen uns sehr“, strahlt Claudia Roth. Rösler ist auch Sieger, für diesen Moment jedenfalls. Der Kandidat, sagt er, könne dem Amt wieder die Autorität verleihen, die ihm zustehe.
Joachim Gauck schaut nach unten und streicht mit dem Zeigefinger auf dem Pult auf und ab. Im Taxi vom Flughafen hat ihn die Kanzlerin angerufen: „Ich bin noch nicht mal gewaschen!“ Dass all diese Parteien sich zusammen gefunden hätten, sagt er, das helfe ihm sehr. „Ich fühle mich eingeladen und geehrt, irgendwann ganz tief in der Nacht werde ich vielleicht beglückt sein.“ Am Vormittag in Wien hat er noch gelacht. Jetzt schafft er kaum ein Lächeln. „Im Moment“, sagt das künftige Staatsoberhaupt, „bin ich nur verwirrt.“