Was ist der Westen?: Die liberale Ordnung muss neu begründet werden
Das westliche Projekt wird von innen angegriffen. Es kann nur mit neuen Partnern verteidigt werden. Ein Gastbeitrag.
In München findet derzeit die 56. Münchner Sicherheitskonferenz, das international hochrangig besetzte Treffen zur Außen- und Sicherheitspolitik. Tobias Bunde ist Leiter Politik und Analyse der Münchner Sicherheitskonferenz und forscht am Centre for International Security der Hertie School. Die Geschehnisse in München können Sie auch hier im Blog verfolgen.
Ist der Untergang des Westens langfristig unvermeidlich? Diese Debatte hat in jüngster Zeit wieder Konjunktur. Sie ist nicht nur Ausdruck einer Welt, die immer weniger westlich ist. Sondern sie spiegelt auch wider, dass der Westen selbst immer weniger westlich wird.
Nun war der Westen nie ein unumstrittener Begriff, sondern immer ein Amalgam aus verschiedenen Traditionen, deren relative Bedeutung sich im Laufe der Zeit regelmäßig verschob. Aber in den letzten Jahrzehnten bestand doch weitgehend Einigkeit darüber, dass der Westen in erster Linie eine Gemeinschaft liberaler Demokratien war, die sich den Menschenrechten, der Rechtsstaatlichkeit, der Marktwirtschaft und der Kooperation in internationalen Institutionen verpflichtet sahen.
Dieser Westen als normatives Projekt war prinzipiell offen für all jene, die diese Werte teilten, also nicht mehr regional oder kulturell gebunden. Doch die offene, liberale Interpretation des Westens hat einen mächtigen Gegenspieler bekommen. So wie das Mittelalter den Gegen-Papstes kannte, der wie der eigentliche Papst für sich in Anspruch nahm, für die Katholische Kirche zu sprechen, sehen wir heute einen Gegen-Westen, der genauso davon überzeugt ist, den wahren Westen zu verteidigen.
Gemeinsame Werte verlieren an Bedeutung
Für die Anhänger dieses Gegen-Westens wird der Westen nicht in erster Linie durch gemeinsame Werte zusammengehalten, sondern gründet auf ethnischen, kulturellen oder religiösen Kriterien. So beschwor US-Präsident Donald Trump bei seiner Rede in Warschau 2017 zwar genauso wie seine Vorgänger die Bedeutung des Westens. Aber er definierte ihn anders.
Trump mahnte, der Westen müsse sich gegen all jene Kräfte wappnen, welche die „Bande der Kultur, des Glaubens und der Tradition, die uns zu dem machen, was wir sind“ auslöschen wollten. Anhänger des Gegen-Westens – von Initiativen wie den „Patriotischen Europäern gegen die Islamisierung des Abendlandes“ (Pegida) bis hin zu führenden Politikern in westlichen Staaten – sehen den Westen durch Immigration, kulturfremde Einflüsse, gesellschaftlichen Wertewandel oder gar „gender mainstreaming“ bedroht.
Die verhassten „liberalen Eliten“ werden dafür verantwortlich gemacht, dass es – so der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán – im Westen zwar Liberalismus, aber keine Demokratie mehr gebe. Anstelle des Volkswillens trete die Herrschaft der Technokraten und der politischen Korrektheit. Für die Vertreter des liberalen Westens ist dieser Gegen-Westen die größte Bedrohung.
Sie machen sich berechtigte Sorgen um die Erosion demokratischer Prinzipien und der Rechtsstaatlichkeit in vielen westlichen Ländern. Aber bislang scheint das Momentum bei den Illiberalen zu liegen. „Make America Great Again“ oder „Take Back Control“ sind machtvolle Botschaften, welche die Emotionen nicht unerheblicher Teile der Bevölkerung ansprechen – ganz im Gegensatz zu Initiativen, die nüchtern zur Verteidigung der liberalen Weltordnung oder des Multilateralismus aufrufen.
Einer Umfrage der Körber-Stiftung zufolge wussten 67 % der Deutschen nicht, was der Begriff Multilateralismus bedeutet, während 42 % angaben, den Begriff noch nie gehört zu haben.
Langfristige außenpolitische Strategien werden unmöglich
Der Aufstieg des Gegen-Westens hat aber nicht nur direkte Folgen für die Gesellschaften des Westens, sondern auch darüber hinaus. Erstens geht mit der zunehmenden Polarisierung westlicher Gesellschaften die Gefahr einher, dass wesentliche Pfeiler der liberalen Ordnung kaum mehr in der Lage sind, außenpolitische Strategien zu verfolgen, die mehrere Legislaturperioden überdauern. In den USA ist dies bereits zu beobachten. Denn wer will in Zukunft noch Verträge mit Staaten schließen, wenn die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass diese von der nächsten Regierung wieder gekündigt werden?
Zweitens potenziert sich diese Uneinigkeit auf internationaler Ebene. Schließlich stellen die Vertreter des Gegen-Westens wesentliche Elemente der Kooperation zwischen westlichen Staaten in Frage. Für die Europäische Union als Rechtsgemeinschaft ist die Unterminierung von Rechtsstaat und Gewaltenteilung in einigen Mitgliedstaaten eine existentielle Gefahr. Aber auch die NATO leidet unter ihren illiberalen Mitgliedsstaaten.
[Dieser Text beruht auf dem Einleitungsessay des Munich Security Report 2020 'Westlessness', der auf www.securityconference.org zu finden ist.]
Und drittens scheint dem Westen auch sein weltpolitischer Gestaltungswille abhanden gekommen zu sein. Wenn wir schon selbst nicht mehr wissen, was uns gemeinsam ausmacht: Wie sollen wir uns auf eine gemeinsame weltpolitische Agenda einigen? Für manchen scheint die Zukunft des Westens darin zu liegen, sich für eine neue Ära der Großmachtkonkurrenz in Stellung zu bringen.
Geeint gegen China und Russland?
Dieses Paradigma hat in den USA längst den „Krieg gegen den Terrorismus“ als sicherheitspolitisches Leitbild abgelöst. Führende Vertreter der Trump-Regierung wie Außenminister Mike Pompeo haben daher in den letzten Jahren immer wieder die nötige Selbstbehauptung des Westens gegenüber den autokratischen Großmächten China und Russland beschworen.
Doch Pompeos Versuche, die „edlen Nationen der Welt zu versammeln, um eine neue liberale Ordnung aufzubauen“, würden glaubwürdiger wirken, wenn die USA nicht gleichzeitig regelmäßig ihre eigenen Alliierten ins Visier nehmen würden. Laut einer Meinungsumfrage des European Council on Foreign Relations ist die überwiegende Mehrheit der Europäer denn auch dafür, in einem Konflikt zwischen China und den USA neutral zu bleiben.
Diese Entwicklung ist insofern tragisch, als es angesichts aggressiver auftretender illiberaler Mächte einer gemeinsamen Strategie liberaler Demokratien bedürfte. Eine solche bedeutete heute weniger eine Wiederbelebung der klassischen transatlantischen Partnerschaft in der Opposition gegenüber einem gemeinsamen Feind, sondern eine Neubegründung des Westens im Sinne einer Gemeinschaft liberaler Demokratien, die gemeinsame Werte bewahren möchte, sich aber nicht auf die Staaten und Gesellschaften des klassischen Westens beschränkt.
Die Inhalte der liberalen Ordnung verteidigen
Die von Deutschland und Frankreich initiierte „Allianz für den Multilateralismus“ mag dazu wichtige Impulse leisten. Aber für Skeptiker ist immer noch unklar, ob sie tatsächlich eine Gruppierung gleichgesinnter Staaten sein soll, die aktiv eine liberale Vision internationaler Ordnung verteidigt, oder eher ein Forum für die multilaterale Zusammenarbeit von Staaten mit unterschiedlichen Regierungsformen und Werten.
Im besten Fall gelingt es den Vertretern des politischen Westens auch in einer Welt, die unweigerlich weniger westlich wird, gemeinsam mit neuen Partnern liberale Werte zu verteidigen, um nicht nur die Form liberaler Ordnung, sondern auch ihren Inhalt zu bewahren. Dafür bedarf es aber zuerst einer Erneuerung des normativen Projekts des Westens selbst, die bei uns zuhause beginnen muss. Es wird wohl die Aufgabe für eine ganze Generation sein.