Präsidentschaftswahlen in Frankreich: Die Krise der EU bleibt auch mit Macron
Auch wenn Macron gegen Le Pen gewinnen sollte, hat er keinen Kompass, der neue Orientierung für Europa verspricht. Ein Kommentar
Falls an diesem Sonntag eine klare Mehrheit der Franzosen den parteiunabhängigen Kandidaten Emmanuel Macron zum nächsten Präsidenten ihres Landes wählt, wird quer durch Europa ein Seufzer der Erleichterung zu hören sein. Zu recht. Was passiert, wenn entgegen allen Prognosen Marine Le Pen gewinnt, sei vorerst den Phantasien besorgter EU-Bürger überlassen. Doch selbst die Freude über einen Sieg Macrons wird wohl rasch durch einen Realitäts-Kaltwasserschock vereisen.
Denn der Raum der Ratlosigkeiten, durch den viele Europäer tapern seit dem Abdriften einiger osteuropäischer Staaten in illiberale Demokratien, dem Brexit-Votum, dem Einzug Donald Trumps ins Weiße Haus sowie den erratisch-autokratischen Manövern Wladimir Putins und Recep Tayyip Erdogans, wird weder kleiner noch übersichtlicher. Auch Macron hält keinen Kompass bereit, der Orientierung verheißt.
Macron ist jung und unerfahren, er kommt von Außen, verfügt über keine Machtbasis in Form einer Partei. Was er kann, weiß keiner. Was aber jeder weiß: Die Probleme, die er bewältigen muss, sind groß. Die Arbeitslosigkeit liegt bei zehn Prozent, die Ausgaben für den öffentlichen Dienst sind weiterhin hoch, ebenso das Handelsbilanzdefizit, die Staatsverschuldung steigt, die Maastricht-Kriterien wurden zum letzten Mal vor zehn Jahren eingehalten. Frankreich verkörpert die Krise Europas.
Ein gewisses Maß an antideutscher Rhetorik verfängt in Europa
Das Land selbst wiederum ist gespalten. Die Ablehnung der EU geht weit über die Anhänger der Rechtspopulistin Le Pen hinaus und umfasst auch die des Linkspopulisten Jean-Luc Mélenchon. Wie sollen in einem solchen Klima kühne politische und wirtschaftliche Reformen gelingen? Erschwerend hinzu kommt, dass Macron nicht den Eindruck erwecken darf, in dieser Beziehung vor allem der willige Vollstrecker der Wünsche Angela Merkels zu sein. Immer mehr EU-Politiker entdecken, dass ein gewisses Maß an antideutscher Rhetorik verfängt. Lokomotive (durch starke Exporte), Stabilitätsanker (Merkel regiert seit zwölf Jahren), Streber (keine Neuverschuldung) und humanitäres Musterland (Flüchtlinge) in einem zu sein, ist eben ziemlich unattraktiv, wenn nicht gar abstoßend.
Für den Grundkonflikt, in dem sich Europa und der Westen insgesamt befinden – hier eine gebildete, digital affine, mobile, globalisierungsoffene, gut verdienende Schicht, dort das Gefühl von Überfremdung, das Verlangen nach traditioneller Zugehörigkeit, die Rückkehr des Nationalismus –, hat noch niemand eine Lösung parat. Auch Diskussionen über Leitkulturen formen ja nicht den Kitt, der die antagonistischen Lager zusammenhalten könnte.
Gewarnt sei daher vor liberalem Triumphalismus nach einem möglichen Wahlsieg Macrons. Den würde die unterlegene Seite als weiteren demütigenden Akt elitärer Arroganz empfinden, der die gesellschaftliche Spaltung vertieft. Außerdem wäre er in der Sache unangebracht. Die liberalen Werte bleiben bedroht. Weder Macron noch Merkel können die Erlöser aus der Malaise sein.
Ganz bescheiden muss im Raum der Ratlosigkeiten nach Fixpunkten gesucht werden. Kontinuität in den deutsch-französischen Beziehungen ist einer davon. Einer von vielen, mehr nicht. Wer auf Wunder hofft, einen plötzlichen Wandel zum Guten gar, macht sich – und anderen – Illusionen über den Ernst der Lage.