Südafrika wählt: Die junge Generation belebt die Regenbogennation neu
Die Südafrikaner wählen ein neues Parlament. Armut ist das große Problem im Land. Doch es gibt eine lebendige Zivilgesellschaft, die Mut macht. Ein Gastbeitrag.
Melanie Müller ist Wissenschaftlerin bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin und forscht dort unter anderem zu politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen im südlichen Afrika.
Der Übergang in die Demokratie galt in Südafrika lange Zeit als Erfolgsgeschichte. 25 Jahre ist es her, dass zum ersten Mal freie und demokratische Wahlen stattfanden. Doch mittlerweile gibt es Risse. Die Präsidentschaft von Jacob Zuma, die im Februar 2018 endete, hat dem Ruf der südafrikanischen Demokratie und der Regierungspartei African National Congress (ANC) massiv geschadet. Zuma soll den Staat systematisch unterwandert haben, um eigene wirtschaftliche Interessen zu verfolgen.
Es wird Jahre dauern, bis sich die Institutionen von den Eingriffen erholt haben werden, doch hat der heutige Präsident Cyril Ramaphosa ihre Rehabilitation in Angriff genommen. Die südafrikanische Demokratie ist aber nicht gescheitert. Vielmehr befindet sich Südafrika 25 Jahre nach den ersten demokratischen Wahlen noch immer im Transit. Die hohe soziale Ungleichheit im Land schließt nach wie vor große Teile der Bevölkerung aus. Soziale Gerechtigkeit zu schaffen, ist daher die zentrale Herausforderung für die junge Demokratie.
Die heutige ökonomische Ungerechtigkeit ist ein Resultat der kolonialen Vergangenheit, die mit der Apartheid ab 1948 fortgesetzt wurde. Der Begriff „Apartheid“ bedeutet „Trennung“. Als politischer Begriff umfasste die Apartheid ein ganzes Set an Politiken, das die Gesellschaft systematisch spaltete.
Bereits 1913 regelte der „Natives Land Act“ die Besitzverhältnisse von Land neu, wies Gebiete der weißen Bevölkerung zu und vertrieb schwarze Menschen von diesem Land. Das Apartheidregime unterteilte die Bevölkerung dann in vier Gruppen („Africans“, „Coloureds“, „Indians“, „Whites“). Die weiße Bevölkerung machte lediglich zehn Prozent aus, wurde aber vom Apartheidregime als angeblich einzige „zivilisierte“ Gruppe angesehen, die über die restliche Bevölkerung herrschen sollte.
Die ökonomische Ungerechtigkeit wurzelt in der kolonialen Vergangenheit
Die systematische Spaltung der Bevölkerung betraf alle Lebensbereiche. Das Regime wies den jeweiligen Gruppen bestimmte Wohnbezirke zu und trennte die Gruppen physisch. Beziehungen zwischen Schwarzen und Weißen waren verboten, gemischte Familien wurden auseinandergerissen.
Schwarze Wohnbezirke waren finanziell schlechter ausgestattet, ebenso deren Infrastruktur, die Wasser- oder Stromversorgung, es gab große Unterschiede bei Schulen und Universitäten. Nicht-Weißen waren bestimmte Tätigkeiten untersagt, ihre schulische Bildung darauf ausgelegt, Befehlen zu befolgen. Verschiedene Gruppen mobilisierten gegen die Apartheid.
Der ANC und andere Widerstandsgruppen wurden spätestens ab 1960 in Südafrika verboten; sie handelten im Untergrund oder im Ausland. Im Land agierten zunächst das Black Consciousness Movement, später dann die Gewerkschaftsbewegung, die Schüler- und die Studierendenbewegung, aber auch die United Democratic Front, ein Zusammenschluss zivilgesellschaftlicher Akteure, gegen die Apartheid.
Heute dokumentiert das Apartheidmuseum in Johannesburg eindrucksvoll den nationalen und internationalen Kampf gegen die Apartheid. Ziel, war die politische, ökonomische und gesellschaftliche Gleichstellung der gesamten Bevölkerung. Als im April 1994 erstmalig alle volljährigen Südafrikanerinnen und Südafrikaner zur Wahlurne traten, schien der wichtigste Schritt der politischen Gleichstellung vollzogen.
Seit 1994 faire Wahlen
Südafrika wird seit 1994 vom ANC regiert, der seitdem eine so genannte Dreiparteienallianz mit den Gewerkschaften und der kommunistischen Partei formt. Unter dem ersten schwarzen südafrikanischen Präsidenten Nelson Mandela gelang ein nicht einfacher, aber größtenteils gelungener Übergang in die Demokratie.
Seit 1994 galten alle Wahlen in Südafrika als frei und fair. Die südafrikanische Verfassung verankert alle zentralen demokratischen Rechte; sie gilt als eine der liberalsten der Welt. Das Land verfügt zudem über eine starke Gerichtsbarkeit. Es ist vielen mutigen Journalistinnen und Journalisten sowie der ehemaligen Ombudsperson Südafrikas, der Anwältin Thuli Madonsela, zu verdanken, dass die systematische Korruption unter Jacob Zuma (Präsident von 2009-2018) aufgedeckt werden konnte.
Doch Zuma und seine Unterstützter haben die demokratischen Institutionen beschädigt. Die Nichtregierungsorganisation „Freedom House“ stuft die Freiheit der Presse in Südafrika nur noch als „teilweise frei“ ein, weil die Zuma-Administration versuchte, die Unabhängigkeit der Medienanstalten zu beschneiden. Die Eingriffe in die Institutionen waren systematisch und tiefgreifend.
Der ANC verlor 2014 erstmals die zuvor sichere Zweidrittelmehrheit im Parlament
Seit Cyril Ramaphosa im Februar 2018 das Präsidentschaftsamt übernommen hat, kämpft dieser mit der Aufarbeitung der Unterwanderung des Staates. Ramaphosa hat eine Kommission eingesetzt, die die „State Capture“ des Netzwerks um Jacob Zuma untersuchen soll.
Er entließ korrupte Beamte in verschiedenen südafrikanischen Ministerien und Behörden. Ramaphosa arbeitet aktiv daran, das verlorengegangene Vertrauen in die Regierung wieder aufzubauen. Einen parteiinternen Konflikt kurz vor den Wahlen scheut der neue Präsident aber.
Deswegen bekamen Unterstützer von Zuma, die der Korruption beschuldigt werden, vordere Listenplätze für die Parlamentswahlen. Ramaphosa und seine Anhänger im ANC scheinen darauf zu setzen, dass mit der rechtlichen Aufarbeitung der „State Capture“ bedeutsame Unterstützer Zumas vor Gericht stehen werden. Für den Parteizusammenhalt ist dies die naheliegende Variante; sie birgt aber auch das Risiko für den ANC, dass sich enttäuschte Wähler anderen Parteien zuwenden.
Bereits 2014 verlor der ANC erstmals die zuvor sichere Zweidrittelmehrheit im Parlament. Dies könnte ein Zeichen sein, dass sich Südafrika hin zu einem Mehrparteiensystem entwickelt und der Wettbewerb zwischen verschiedenen Lagern die Demokratie weiter belebt.
Andere Parteien wie die liberale Democratic Alliance (DA), aber auch die links-populistischen Economic Freedom Fighters (EFF) stehen dafür bereit. Beunruhigend ist aber die sinkende Wahlbeteiligung: 9,2 der 35,9 Millionen Wahlberechtigten haben sich nicht für die Wahlen am 8. Mai registriert. Die niedrige Wahlbeteiligung weist auf die enorme Unzufriedenheit der Bevölkerung mit der Regierung hin.
Zwar hatte diese ein schweres Erbe nach dem Ende der Apartheid angetreten: die Überwindung der systematischen Diskriminierung von fast 90 Prozent der Bevölkerung. Die Regierung hat Fortschritte erzielt in den vergangenen 25 Jahren. Sie hat breite Teile der Bevölkerung mit Energie versorgt, ein flächendeckendes Sozialsystem geschaffen, Infrastruktur entwickelt. Es hat sich eine kleine schwarze Mittelklasse entwickelt.
Kosmopolitische Atmosphäre in Johannesburg
Im Herzen von Johannesburg sind vielfältige kreative Räume und Ideen entstanden, wurden kulturelle, politische und gesellschaftliche Möglichkeiten geschaffen. Hier vereint sich südafrikanisches Leben mit einer kosmopolitischen Atmosphäre. Der Philosoph Achille Mbembe bezeichnet Johannesburg daher als „Afropolis“. Im urbanen Johannesburg gelingt das gemeinschaftliche Leben der unter der Apartheid gespaltenen Gruppen etwas besser als in anderen Teilen des Landes.
Hier realisiert sich vielleicht noch am ehesten das Versprechen der „Regenbogennation“, die viele schon für tot erklärt haben. Ein Problem des heutigen Südafrikas ist aber die soziale Ungleichheit, die nach wie vor insbesondere die Gruppen trifft, die in der Apartheid als „Africans“ und „Coloureds“ deklariert wurden.
55 Prozent der 58 Millionen Menschen sind von Armut betroffen. Die Arbeitslosenquote liegt laut südafrikanischem Statistikinstitut bei etwa 27 Prozent, wobei die Zahl wahrscheinlich höher ist, weil nicht alle, die arbeitssuchend sind, sich auch registriert haben. Die Wut über diese Verhältnisse eskaliert immer wieder in gewaltsamen Protesten, wie jüngst im Township Alexandra, nahe Johannesburg.
Die junge Generation ist ein demographisch bedeutsamer Faktor: Zwei Drittel der Bevölkerung ist unter 35 Jahren alt. Das südafrikanische Statistikinstitut geht davon aus, dass 38,2 Prozent der 15 bis 34-Jährigen in Südafrika arbeitslos oder unterbeschäftigt sind. Andere Forschungsinstitute nehmen noch höhere Zahlen an, die teilweise bei bis zu 55 Prozent liegen. Für diese junge und unzufriedene Generation muss die Regierung, die nach den Wahlen am 8. Mai wohl wieder vom ANC geführt werden wird, schnell gute Angebote machen.
Nach den Wahlen muss die neue Regierung den jungen Leuten etwas anbieten
Die Unzufriedenheit mit der sozialen Lage ist eines der größten Risiken für die südafrikanische Demokratie. Dies verdeutlicht die jüngste Umfrage des Afrobarometers. In dieser gaben 62 Prozent der Befragten an, sie seien bereit, ihr Wahlrecht aufzugeben, wenn sie dafür Zugang zu sozialen Dienstleistungen oder Zugang zu Wasser oder Wohnraum erhalten würden.
Nur 25 Jahre nach den ersten demokratischen Wahlen, für die so viele gekämpft haben, ist dies eine hohe Zahl. Die angekündigte Landreform ist notwendig. Dass großflächige oder gar gewaltsame Enteignungen weißer Farmer stattfinden werden, gilt als unwahrscheinlich. Cyril Ramaphosa ist es gelungen, einen demokratischen Prozess anzustoßen. Dabei geht es nicht nur um die Verteilung von Agrarland.
Es geht um die Frage, wie die räumliche Segregation aus der Apartheid überwunden und Verteilungsgerechtigkeit ermöglicht werden kann. Es wird nicht ausreichen, sich auf die Landfrage zu beschränken. Südafrika muss eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung voranbringen, die Arbeitsplätze schafft und Einkommensunterschiede überwindet.
Mut macht die lebendige südafrikanische Zivilgesellschaft, die sich konstruktiv einbringt. In den Städten und auf dem Land engagieren sich diverse Gruppen für den Zugang zu sozialen Dienstleistungen, gegen Umweltverschmutzung und für nachhaltige Entwicklung.
Eine aktive Studierendenbewegung setzte sich in den vergangenen drei Jahren kritisch mit der Bilanz der südafrikanischen Demokratie auseinander. Dieser Prozess war radikal und schmerzhaft für die Generation der Befreiungsbewegung. Es ist ein gutes Zeichen, dass die junge Generation ihre Zukunft mitbestimmen will.