zum Hauptinhalt
Eine Ärztin untersucht in einer mobilen Klinik in Somalia ein Kind. 22. Jahre lang haben die "Ärzte ohne Grenzen" in Somalia eine kostenlose Gesundheitsversorgung angeboten. Nun ziehen sie sich aus dem Land zurück, weil es ihrer Einschätzung nach für die rund 1500 Beschäftigten und die Patienten zu riskant geworden ist. Das Foto entstand 2011.
© MSF

Humanitäre Hilfe: Die Hilfsorganisation "Ärzte ohne Grenzen" verlässt Somalia

Nach 22 Jahren verlässt die Ärzteorganisation das Land, weil sie um die Sicherheit ihrer Beschäftigten und ihrer Patienten fürchtet. Dabei geht es in Somalia doch erstmals seit 20 Jahren wieder etwas aufwärts.

Nach 22 Jahren verlässt die Hilfsorganisation „Ärzte ohne Grenzen“ das Krisenland Somalia. Unni Karunakara, internationaler Präsident der Ärzte begründet den Rückzug damit, dass „die Situation im Land zu einem unhaltbaren Ungleichgewicht geführt hat zwischen den Risiken, die unsere Mitarbeiter eingehen müssen, und unseren Möglichkeiten, der somalischen Bevölkerung zu helfen“. Seit 1991 hat die Hilfsorganisation nach eigenen Angaben 16 Mitarbeiter verloren.

Als besonders bedrohlich schildert die Organisation die Lage seit 2011. Damals seien in der Hauptstadt Mogadischu zwei Ärzte-Mitarbeiter brutal ermordet worden, der verurteilte Mörder sei dann vorzeitig aus der Haft freigekommen. Zudem verweist die Organisation auf die Entführung von zwei Mitarbeiterinnen aus dem größten Flüchtlingslager der Welt im benachbarten Kenia. Die beiden waren aus Dadaab verschleppt und erst vor wenigen Wochen nach 21 Monaten Geiselhaft in Zentral- und Südsomalia wieder freigekommen. In Dadaab und auch in den anderen Flüchtlingslagern in Äthiopien wollen die "Ärzte ohne Grenzen" dennoch weiterarbeiten, sagte der Geschäftsführer der Ärzte in Deutschland, Frank Dörner dem Tagesspiegel. Aus Somaliland dagegen, dem selbst ausgerufenen unabhängigen Kleinstaat im Norden Somalias, wollen sich die Ärzte ebenfalls zurückziehen.

Die Ärzte-Organisation wirft den zuständigen Behörden und den Vertretern bewaffneter Kämpfe vor, ihnen nicht einmal die minimalen Sicherheitsgarantien gegeben zu haben, die sie hatten aushandeln können. In der Pressemitteilung der Ärzte-Organisation heißt es wörtlich: "In einigen Fällen waren dieselben Akteure, mit denen ,Ärzte ohne Grenzen' minimale Sicherheitsgarantien für die medizinische, humanitäre Arbeit verhandeln musste, direkt an Übergriffen auf Projektmitarbeiter beteiligt oder haben diese stillschweigend gebilligt." Dies sei "insbesondere, aber nicht ausschließlich, in Süd- und Zentral-Somalia" der Fall gewesen.

Somalia sei das einzige Land gewesen, in dem sich die Ärzte von bewaffnetem Sicherheitspersonal hätten schützen müssen, was die Organisation sonst prinzipiell ablehnt. "Wir haben uns sehr verbogen, um in Somalia tätig sein zu können", sagt Dörner. Aber die "rote Linie" dessen, was sie noch für verantwortbar gehalten hätten, sei inzwischen überschritten. Die Ärzte schreiben in ihrer Mitteilung, dass humanitäre Arbeit von allen Konfliktparteien und Gesellschaftsgruppen ein Mindestmaß an Akzeptanz erfordere. "Die Bereitstellung medizinischer Hilfe muss erlaubt und die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit humanitärer Organisationen müssen akzeptiert werden", heißt es in dem Text. Darüber hinaus müssten alle Parteien "bereit und fähig sein, ausgehandelte minimale Sicherheitsgarantien für Patienten und Mitarbeiter aufrecht zu erhalten. Diese Bereitschaft ist in Konfliktgebieten immer schwach ausgeprägt und in Somalia heute nicht mehr gegeben".

Tausende Menschen in Somalia verlieren ihre medizinische Grundversorgung

Dass der Rückzug der Ärzte für Tausende Menschen verheerende Folgen haben wird, ist der Ärzte-Organisation dabei allerdings klar. „Letztendlich zahlt die Zivilbevölkerung in Somalia den höchsten Preis“, sagte Unni Karunakara. „Ein Großteil der Somalier hat das Land noch nie ohne Krieg oder Hungersnot erlebt." Die Bevölkerung erhalte ohnehin weniger Hilfe als notwendig. "Durch die Angriffe bewaffneter Gruppen auf humanitäre Hilfsorganisationen, die von den zivilen Repräsentanten akzeptiert werden, verliert die somalische Bevölkerung nun noch den letzten Zugang zu medizinischer Versorgung“, sagte er.

In der Realität der meisten hilfsbedürftigen Menschen sind die politischen Fortschritte der vergangenen Monate offenbar noch nicht angekommen. Jedenfalls sieht Frank Dörner die Entwicklung keineswegs so positiv wie nach der Vielzahl von internationalen Geber- und Somalia-Konferenzen anzunehmen wäre. Internationale Beobachter schätzen die Entwicklungen in Somalia durchaus positiv ein. Die Piraterie ist zurückgegangen, eine durchaus akzeptabel legitimierte neue Regierung unter dem Präsidenten Hassan Scheich Mohammed hat im September 2012 die Amtsgeschäfte übernommen, und die Sicherheitslage in der Hauptstadt Mogadischu hat sich stark verbessert. Wenn auch noch immer täglich mit Selbstmordanschlägen zu rechnen ist. Erst Ende Juli hatte die islamistische Al-Schabaab-Miliz einen Anschlag auf türkische Diplomaten verübt.

Die somalische Regierung zeigte sich besorgt und bat die Organisation, ihre Entscheidung noch einmal zu überdenken. „Das ist genau das, was Al Schabaab und Al Qaida wollten, weil sie die Bürger jetzt noch mehr terrorisieren können“, sagte Präsidentensprecher Abdirahman Omar Osman. „Die Menschen leiden schrecklich, und trotz unserer Bemühungen um Fortschritte verschlechtert sich die humanitäre Lage weiter“, betonte Osman. Er rufe MSF und alle anderen Hilfsorganisationen auf, die Menschen, die dringend Hilfe benötigten, weiter zu unterstützen. Ärzte ohne Grenzen solle sich nicht komplett zurückziehen, sondern zumindest dort weiterarbeiten, wo es derzeit möglich sei, forderte Osman.

Augenzeugen zufolge plünderten Mitglieder der Al-Schabaab-Miliz im Distrikt Diinsoor südwestlich von Mogadischu bereits am Nachmittag alle medizinischen Geräte und weitere Materialien von Ärzte ohne Grenzen. Aus dem südlichen Ort Mareerey gab es ähnliche Berichte. (mit dpa)

Zur Startseite