Tübingens Boris Palmer im Interview: "Die Grünen sollten sich weniger an Prinzipien verbeißen"
Der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer im Interview über die Flüchtlingspolitik der Grünen und Lehren aus der Landtagswahl in Baden-Württemberg.
Herr Palmer, die Grünen sind bei der Landtagswahl in Baden-Württemberg stärkste Kraft geworden, in Tübingen hat die Partei sogar 45 Prozent erzielt. Was können sich die Grünen im Bund abgucken?
Manche in meiner Partei werfen die Frage auf, ob es überhaupt erstrebenswert ist, so viele Wählerstimmen zu gewinnen, weil das zu Lasten des grünen Profils gehe. Ich kann nur sagen: Das stimmt nicht. In Tübingen haben wir gezeigt, dass nachhaltiges Wachstum machbar ist. Die Stadt prosperiert, das Wirtschaftswachstum ist im Schnitt doppelt so hoch wie im Land. Wir haben einen schuldenfreien Haushalt und die bestausgebaute Kinderbetreuung aller deutschen Städte. Das alles haben wir dank solider grüner Mehrheiten ohne zusätzlichen Flächenverbrauch hinbekommen und den C02-Ausstoß pro Kopf um 20 Prozent gesenkt. Es handelt sich also nicht um Verrat, sondern um die pragmatische Realisierung urgrüner Ziele.
Können die Grünen auch bundesweit zur Volkspartei werden?
Die Grünen hatten auch im Bund schon Umfragewerte von 20 Prozent. Das war vor fünf Jahren, nach Fukushima. Das zeigt: Es gibt auch außerhalb Baden-Württembergs viele Menschen, die uns wählen würden, wenn wir das passende Angebot machen. Die Bundespartei hat sich 2013 leider entschieden, einen Wahlkampf nur für die grüne Stammklientel zu machen. Damit lassen sich halt nur 8,4 Prozent erreichen.
Was können die Grünen im Bundestagswahlkampf 2017 besser machen?
Es war ein Fehler, bei der letzten Bundestagswahl gleich fünf Steuererhöhungen zu fordern. Die Steuerpolitik hat bei der Niederlage eine große Rolle gespielt. Zum Glück war der Schock heilsam, die Partei geht das jetzt realistischer an. Wir sollten uns im Wahlprogramm auf eine Steuererhöhung konzentrieren, die Geld in die Kasse bringt, sozial gerecht ist und die Menschen nicht überfordert. Meine Präferenz wäre eine Anhebung des Spitzensteuersatzes. Bei der Vermögensteuer bin ich skeptisch. Ich habe bisher noch kein Konzept gesehen, das nicht zu einer Substanzbesteuerung führt. Eine Belastung des Mittelstandes könnte ich nicht mittragen. Schließlich ist es der Mittelstand, der in einer Stadt wie Tübingen Steuern zahlt, nicht die großen Konzerne.
Sollten die Grünen sich programmatisch neu aufstellen, um neue Wählerschichten zu erreichen?
Wir müssen nicht alles über Bord werfen, wir sollten uns aber thematisch erweitern. Zeit- und Genderpolitik sind wichtig, wir müssen aber auch Arbeitsplatzpolitik, Standortpolitik und Haushaltspolitik liefern. Entscheidend ist außerdem, wie wir an Politik herangehen: Die Grünen sollten sich stärker auf Ziele fokussieren und weniger an Prinzipien verbeißen.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Es ist rückwärtsgewandt, wenn wir Grüne argumentieren, dass wir gegen die Ausweitung der sicheren Herkunftsländer sein müssen, weil wir dieses Konstrukt schon 1993 für falsch gehalten haben. Entscheidend ist doch: Der individuelle Asylanspruch bleibt erhalten, es geht nur um schnellere Verfahren. Die große Mehrheit im Land will ein klares Signal, dass wir derzeit nur Kriegsflüchtlingen helfen können und nicht auch noch Menschen vom Balkan oder aus Nordafrika. Dem sollten wir uns nicht verweigern. Wir leisten auch so mehr Hilfe als jedes andere Land in Europa.
Vor der Landtagswahl haben Sie viele in Ihrer Partei provoziert mit der Forderung, die EU-Außengrenzen auch mit Zäunen und bewaffneten Grenzern zu schützen. Parteichefin Simone Peter warf Ihnen vor, dass Sie rechten Hetzern in die Hände spielen. Hat sich diese Befürchtung bewahrheitet?
In Tübingen sind die Grünen auf 45 Prozent gekommen, damit sind wir erstmals die stärkste Hochburg im Land. Die AfD hat mit 6,2 Prozent das schlechteste Ergebnis von 1100 Gemeinden landesweit erzielt. Das zeigt: In der Flüchtlingspolitik Probleme klar beschreiben und wirksame Lösungen vorschlagen, hilft keineswegs den rechten Hetzern. Ich hoffe, dass man sich diese Wahlergebnisse in der Parteispitze genau anschaut. Und die schlimmen Bilder von Idomeni hätte uns eine europäische Grenzsicherung auch erspart.
Sollten die Grünen ihre Positionen in der Flüchtlingspolitik überdenken?
Das Problem ist, dass wir hohe moralische Ansprüche formulieren, die Leute uns aber keine Lösungskonzepte zutrauen. Bis zur Schließung der Balkanroute haben die Menschen eine Antwort auf die Frage verlangt, wie die Zahl der Flüchtlinge so begrenzt werden kann, dass wir uns nicht überfordern. Die Grünen argumentieren, man müsse die Fluchtursachen bekämpfen. Das stimmt auch, aber das wird nicht schnell genug wirken. Wir müssen die Sorgen der Unter- und Mittelschicht ernst nehmen, die Angst hat, dass Flüchtlinge eine neue Konkurrenz um Arbeitsplätze und Wohnungen sind. Diese Menschen sind bei den Landtagswahlen zur AfD übergelaufen. Denen müssen auch wir mehr Antworten bieten.
Haben Sie den Eindruck, dass die Grünen im Bund bereit sind, etwas aus Winfried Kretschmanns Wahlerfolg zu lernen?
Im Moment gibt es zumindest ein großes Interesse. Es wird aber nicht einfach, so einen Wahlerfolg zu kopieren. Denn zur Wahrheit gehört auch: Wir haben als Landesverband seit 30 Jahren Vorarbeit geleistet. Schon ein halbes Jahr vor der Landtagswahl 2011 hatten die Grünen Umfragewerte von 20 Prozent, da war Kretschmann noch nicht so bekannt wie heute. In den letzten Jahrzehnten haben wir viel getan, um Ängste vor den Grünen abzubauen. Wir sind in die Kreishandwerksverbände und auf Bauernversammlungen gegangen, als die mit uns noch gar nichts anfangen konnten. Kretschmann hat diese Vorarbeit aufgegriffen und perfekt personifiziert. Ich wünsche meiner Partei sehr, dass sie diesen Weg beschreitet.
Das Interview führte Cordula Eubel