Kanzleramt in weiter Ferne: Die Grünen haben ihre Wahlkampfkrise selbst verschuldet
Reizbar, kleinlich, nervös: Die Grünen sind nach dem Wirbel um Annalena Baerbock nicht wiederzuerkennen. Was ihnen jetzt noch helfen könnte. Ein Kommentar.
Das Grüne, das eben noch so strahlte, verblasst zusehends. Jetzt liegt die Partei mit der großen Hoffnung schon unter 20 Prozent.
Will sagen: Es kann so kommen wie es bisher nur in Baden-Württemberg nicht kam - die Grünen verloren sich und den Wahlkampf, je näher die Wahl kam.
Es wirkt wie ein psychologischer Zwang, das aus ihrer Sicht unabdingbar Richtige zur falschen Zeit nicht nur zu sagen, sondern einem Stentor gleich zu betonen. Hier darum diese These: Kommt die Macht näher, wird ein inzwischen jahrelanger Traum real - diesmal wieder im Bund regieren zu können und das am Ende noch als Nummer 1 -, wachsen zugleich die Ängste, dass es wirklich und wahrhaftig so kommen kann.
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Ängste aber lähmen, auch die geistige Agilität. Das Selbstverständnis kommt schleichend abhanden, und so verstehen sich die Grünen augenscheinlich gerade selbst nicht mehr.
Was ihnen vorher leicht von der Hand ging, Kritik an anderen, begegnet nun ihnen. Und Pardon wird nicht gegeben. Was doch aber - angesichts ihres Zuwachses an Selbstbewusstsein - nur selbstverständlich war.
Baerbocks Unerfahrenheit schlägt ins Negative
Anstatt jetzt gelassen zu bleiben, einzustecken, auszuhalten, abzuwarten, weil das andererseits mit der Zeit Souveränität ausstrahlt und ein „Drüberstehen“, siehe besonders Angela Merkel, siehe aber auch Christdemokrat Armin Laschet und Genosse Olaf Scholz, werden die Grünen kleiner, erscheinen in ihren Reaktionen plötzlich kleingeistiger.
Hier schlägt Annalena Baerbocks Unerfahrenheit - die sie bisher gewinnend und gewinnbringend als Vorteil ausgeben konnte - ins Negative. Als seien die anderen Parteien eben doch besser für die Härten einer Kanzlerschaft gerüstet.
Was da hilft? Mehr Merkel wagen. Die Amtsverweserin macht es der Grünen-Bewerberin vor, seit Jahren. Wenn Merkel bei all den Vorwürfen, die sie sich im Laufe ihrer Kanzlerschaft hat anhören müssen, immer Anwälte bestellt hätte, dann wäre sie kaum mehr zum Regieren gekommen.
Heißt auf Baerbock bezogen: Was stört es eine Eiche, wenn sich ein Plagiatsjäger an ihr reibt? Die Grünen hätten es eigentlich besser wissen müssen. Denn Krisen haben sie immer wieder in Wahlkämpfen erlebt.
Zu wenig aus früheren Wahlkämpfen gelernt
Zu ihrer Verteidigung kann man vielleicht anbringen: Ja, fünf Mark fürs Benzin, ein Veggie-Day, Tempo 30 in der Stadt - das waren Forderungen, die in Ländern, damals in Berlin, und im Bund reingehauen haben, die auch verhinderten, was durchaus möglich erschien. Doch geschah das nicht etwa aus plötzlicher Wirrnis in Angst vor der Macht, sondern war im Gegenteil eher Zeichen einer gewissen Vermessenheit.
Weil die Grünen dachten, die Zeit für sie und diese Forderungen sei da. War sie (noch) nicht. Der Glaube aber, so ihre Authentizität beweisen zu sollen, führte damals in die Irre.
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Zweierlei spricht dennoch nicht für die Klugheit der Grünen im Wahlkampf (und nicht für ihr jetziges Management). Einmal, dass ihnen die Erfahrungen von früher nicht beständig warnend vor Augen zu stehen scheinen, um sie auch nur im Ansatz oder in der Stoßrichtung zu vermeiden. Motto: Spätere Ähnlichkeiten in jedem Fall ausgeschlossen.
Und dass die Grünen-Führung offensichtlich viel zu wenig Gebrauch vom Rat ihres erfolgreichsten Wahlkämpfers je machen, Winfried Kretschmann, wiedergewählter Ministerpräsident von Baden-Württemberg. Der zieht unbeirrt seit jeher seine eigene Furche, lässt sich nicht aus der Ruhe bringen, wird zum Sämann der Solidität. Wenn die Grünen nun das mit Merkel nicht wollen - mehr Kretschmann wagen könnten sie schon noch schaffen.