75 Jahre Warschauer Aufstand: Die Geschichtsbilder der Anderen
Polen ehrt Veteranen des Widerstands gegen die Nazis. Der Bundestag aber sieht keinen Anlass zum Gedenken. Wie groß ist das Interesse am Nachbarn? Ein Kommentar.
Wenn andere Völker ihre Gedenktage begehen, bietet das den Deutschen eine Gelegenheit: Sie lernen deren oft ganz andere Bilder von Europas Geschichte kennen. Die Schweizer etwa feiern am 1. August ihre Freiheit und Unabhängigkeit seit 1291. Auch Polen denkt am 1. August an die Freiheit: die verpasste Freiheit im Warschauer Aufstand gegen die Nazis.
Nazis und Sowjets verband ein gemeinsames Interesse: Polens Teilung
Als Hitlers Armeen auf dem Rückzug waren, wollte Polens Untergrundarmee das Land aus eigener Kraft von der Fremdherrschaft befreien. Doch wie mehrfach zuvor in ihrer Geschichte mussten die Polen erfahren, dass ihre mächtigen Nachbarn, Deutsche und Russen, paktierten; und dass Nazis und Sowjets bei allen ideologischen Gegensätzen das Interesse verband, kein souveränes Polen zuzulassen.
Was den Aufständischen an Waffen und Nachschub fehlte, machten sie unglaubliche 63 Tage lang durch Widerstandswillen und Wagemut wett. Andrzej Wajda hat den bewegenden Film „Kanal“ über den Kampf in den Abwasserkanälen gedreht. Im Zentrum von Warschau erinnert ein Museum an den Aufstand.
Während Wehrmacht und SS den Widerstand niederschlugen, ließ Stalin die Rote Armee am anderen Weichselufer warten. Er wollte, dass Warschau wie das übrige Polen von der Roten Armee befreit wird und nicht von nationalen, bürgerlichen Kräften. Stalin verweigerte den Westalliierten die Möglichkeit, die Aufständischen über Militärflugplätze unter Sowjetkontrolle zu versorgen – eine Hilfe, auf die Polens „Armia Krajowa“ so sehr gehofft hatte. Für Polen endete der Krieg, wie er begonnen hatte: mit einem Pakt zwischen Hitler und Stalin.
Dass die Sowjetunion 1939 Mittäter war und 1944 die Selbstbefreiung der Polen verhinderte, mindert die deutschen Verbrechen kein bisschen. Es ist Gnade und glückliche Fügung, wenn Deutschland heute geachtet wird von den meisten Bürgern seiner östlichen Nachbarländer. Es hat auch damit zu tun, dass die Deutschen sich zu ihrer Schuld bekennen, während das heutige Russland sich schwer tut, ehrlich und offen mit den eigenen Untaten in Polen und anderen Staaten Ostmitteleuropas umzugehen.
Aber: Wissen die Deutschen diese glückliche Rehabilitierung und ihre Ursachen zu schätzen? Wie groß ist die Neugier auf die Geschichtsbilder der Polen und anderer Nachbarn? Wie groß der Wille, ihnen Respekt zu erweisen? Der Außenminister ist am 75. Jahrestag des Aufstands in Warschau und der Bundespräsident am 80. Jahrestag des Kriegsbeginns. Der Bundestag aber sieht keinen Anlass zum Gedenken, weder am 1. August noch am 1. September noch am 23. August, dem 80. Jahrestag des Hitler-Stalin-Pakts. Sind die Daten nicht wichtig genug, um die Ferienruhe der Abgeordneten zu unterbrechen? Das wäre beschämend.