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Modernes Gebäude, nach Europa offenes Geschichtsbild: Das Solidarnosc-Zentrum in Danzig.
© p-a

Erinnerungskultur: Polens Gedächtnis wird europäisch

Warschau investiert in Museen, um sich in der EU zu verorten. Deutsche finden dort einen ganz anderen Blick auf die Geschichte.

Die Vergangenheit ist nicht tot. Sie ist nicht einmal vergangen. In Jubiläumsjahren wie 2014 kann sie neue Verwerfungen auslösen, zumal wenn ein Konflikt wie in der Ukraine hinzukommt und viele die „historischen Lehren“ für ihre Politik bemühen. Soll man länger auf Diplomatie setzen, weil Europa 1914 überstürzt in einen Weltkrieg glitt? Oder Putins Russland rote Linien aufzeigen, weil zu viel Appeasement den Aggressor 1939 ermutigt habe? Oder soll man solche Vergleiche zurückweisen, weil 2014 weder 1914 noch 1939 gleicht?

Der Erste Weltkrieg ist für Deutsche die "Urkatastrophe", für Franzosen "der große Krieg", für Polen der Weg zum eigenen Staat

Europa kann diese Fragen schon deshalb nicht überzeugend beantworten, weil es kein gemeinsames Geschichtsbild gibt. Jedes Volk hat eigene Narrative. Die Deutschen nennen den Ersten Weltkrieg die „Urkatastrophe“. Ganz anders die Polen: Sie gewannen ihren Nationalstaat zurück, der zuvor mehr als hundert Jahre von der Landkarte verschwunden war. Die Franzosen waren formal Sieger und erweiterten ihr Territorium, und doch bleibt WK I für sie der „große Krieg“, der traumatische, weil der Blutzoll hoch war und die großflächigen Grabenkämpfe ihr Land zerstörten. Das blieb für Jahrzehnte sichtbar, denn es dauerte, bis Bäume wieder in die Höhe wuchsen.

Beim Zweiten Weltkrieg wird die Sache noch komplizierter. Deshalb investiert Polen kräftig in Ausstellungen und Museen, um seine Sicht in das europäische Gedächtnis einzufügen. In Danzig hat gerade das Europäische Zentrum Solidarnosc eröffnet. In Warschau folgt Ende Oktober das Museum für die Geschichte der polnischen Juden. Ein weiteres zur Geschichte des Zweiten Weltkriegs soll bis 2016 in Danzig entstehen. In der Hauptstadt geben sich Schulklassen und Touristen im Museum des Warschauer Aufstands 1944 die Klinke in die Hand.

Die neuen Museen beharren nicht auf nationalen Geschichtsbildern

Museumsmacher, Intellektuelle und Politiker beschreiben die geschichtspolitische Offensive als unverzichtbaren Teil der Rückkehr ihres Landes nach Europa. Die institutionelle und ökonomische Integration sei dank der friedlichen Revolution 1989 und dem EU-Beitritt 2004 gelungen. Immer wieder komme es jedoch zu Situationen, in denen Westeuropäer Polens Politik nicht verstünden – und in Klischees ausweichen, zum Beispiel, dass Polens Haltung zur Ukraine auf einer tief sitzenden, womöglich irrationalen Ablehnung Russlands beruhe. Für Polen ist es umgekehrt: Ihre Sicht ist rational und beruht auf historischen Erfahrungen. Nur fehle im Westen das Wissen um die Geschichte.

Die neuen Museen muten an, als stelle Polen seine Europapolitik nun unter das Motto: Erzählen wir uns unsere Geschichtsbilder! Die Einrichtungen beharren nicht trotzig auf nationalen Gegenperspektiven, sondern ordnen die Ereignisse in Polen in den europäischen Kontext ein. Das ist auch für viele Polen neu. Sie sind nach den Grenzverschiebungen und dem Verlust ihrer Ostgebiete in einem nahezu monoethnischen und monoreligiösen Staat aufgewachsen. Auch sie entdecken erst allmählich, wie groß der Anteil der Minderheiten vor 1939 und wie multikulturell Polen war.

Für Polen war Russland weniger Opfer als Mittäter im Zweiten Weltkrieg

Mit Blick auf die Juden blieb im Schulunterricht meist nur Raum für zwei Daten: die Umsiedlung der Krakauer Juden in eine eigene jüdische Stadt, Kazimierz, vor den Toren Krakaus 1495 und der Holocaust. Woher die Millionen Juden kamen, die Nazideutschland umbringen ließ, blieb den Schülern ein Rätsel. Das jüdische Museum zeigt bewegend die tausendjährige Geschichte des Zusammenlebens und die Toleranz im Vergleich zu anderen Staaten Europas, die Juden über Jahrhunderte nach Polen gezogen hatte. Das Solidarnosc- Zentrum bettet die polnische Freiheitsbewegung in das Aufbegehren von 1953 in der DDR über Ungarn 1956 und Prag 1968 bis zum Fall des Kommunismus 1989 ein.

Die Hauptdiskrepanz zu den unter Deutschen verbreiteten Geschichtsbildern betrifft den Zweiten Weltkrieg und Stalins Rolle 1939 und 1945. Für Polen war Russland weniger ein Opfer. Es war von Beginn an Mittäter beim Angriff auf Polen. Kurz vor Kriegsende verhinderte Stalin mit brutalem Kalkül die Selbstbefreiung Polens, indem er dem Warschauer Aufstand die Unterstützung verweigerte. Auf den Nazi-Terror folgte 1945 die Sowjet-Diktatur.

An Neugier fehlt es vielen Deutschen nicht. Mehr als 100 000 besuchten binnen weniger Wochen die Ausstellung zum Warschauer Aufstand in der Topographie des Terrors in Berlin. Nun bieten Polens neue Museen spannenden Stoff. Nur wer die Geschichtsbilder kennt, kann sie nutzen. Oder, wo nötig, ihrem Missbrauch entgegentreten.

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