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Die britische Flagge - und die schottische.
© dpa

Schottland auf dem Weg zur Unabhängigkeit?: Die Geschichte einer Entfremdung

Dem Referendum über Schottlands Unabhängigkeit geht eine lange Geschichte voraus. Es ist das Ergebnis eines Prozesses, in dem sich die Schotten von England abgenabelt haben.

Eigentlich genügt schon diese kleine Anekdote: „Ein Kollege, der gerade in Edinburgh war, erzählt, dass er dort in einer Bank einen englischen Scheck vorgelegt habe und daraufhin höflich gebeten worden sei, erst zum Auslandsschalter zu gehen.“ Sie findet sich in Karl-Heinz Wockers schönem Buch „Jenseits von Eton“, das 1971 erschien. Es ist also keine ganz neue Geschichte, die Mischung aus Gegensatz und Nähe von Engländern und Schotten auf den britischen Inseln. Es ist sogar eine sehr alte Geschichte. Sie reicht zurück bis mindestens 1707. Da entstand die politische Union. Oder 1603. Da kam ein schottischer König aus der Stuart-Dynastie auch auf den englischen Thron, der Anfang der monarchischen Personalunion. Oder auch 1314 – es ist ja kein Zufall, dass die schottischen Unabhängigkeitsbefürworter das Referendum 700 Jahre nach der Schlacht von Bannockburn veranstalten, einem Kerndatum der schottisch-englischen Beziehungsgeschichte. Es war die Zeit der mittelalterlichen Unabhängigkeitskriege. In der zweitägigen Schlacht besiegte ein schottisches Heer unter dem König Robert Bruce die übermächtigen Engländer, angeführt von König Edward II. Die Geschichte kennt jeder Schotte. Neuerdings kennen sie auch viele Engländer wieder.

Eigenes Geschichtsbewusstsein

Das über Jahrzehnte immer stärker gewordene Unabhängigkeitsstreben hat ökonomische, soziale, kulturelle, verfassungs- und auch parteipolitische Ursachen, aber es wurzelt vor allem im besonderen Geschichtsbewusstsein der Schotten, auch derjenigen, die Gegner der Loslösung sind: Dass Schottland zwar ein Teil Großbritanniens ist, aber ein eigenständiger, mit eigener Geschichte, mit eigener Kultur, mit eigener Sprache (das „Scots“ ist ein englischer Dialekt, mit vielen Wörtern, die den Engländern fremd sind), auch mit einer etwas anderen Gesellschaft – die Schotten denken kommunitarischer, sozialer als die Engländer, denen gern ein starker Individualismus nachgesagt wird.

Dieses Geschichtsbewusstsein ist durch die Renaissance der schottischen Geschichtsschreibung seit den 60er Jahren gestärkt worden, und das wiederum hat die Selbstwahrnehmung verändert, hat den Nationalismus unterfüttert, der aber eher moderater Natur ist. Er ist politisch, nicht ethnisch, und keineswegs ausgrenzend oder aggressiv anti-englisch. Davor hatte über Generationen hinweg, seit der industriellen Revolution, die Schottland und England eng aneinanderband, die Vorstellung einer „separaten Nation“ eine nur marginale Rolle gespielt. Sie war politisch nicht relevant.

Eigenes Recht, eigenes Bildungswesen

Doch hatte es stets Unterschiede gegeben. In der Übereinkunft von 1707, als Schottland die politische Eigenständigkeit verlor und Adel und Bürgertum nun allein im Parlament von Westminster repräsentiert waren, wurde festgehalten, dass Schottland eine eigene Staatskirche haben darf (presbyterianisch, nicht anglikanisch), ein eigenes Rechtswesen (schottisches Recht ist am römischen orientiert, nicht am englischen Common Law) und ein eigenes Bildungssystem (es ist bis heute der Stolz des Landes, und es gilt als besser als das englische). So war ein Maß an Autonomie immer gegeben. Im 18. Jahrhundert pflegten die schottischen Eliten weiter ihre kulturelle Distanz zu England, die schottischen Aufklärer sind das beste Beispiel dafür, Adam Smith allen voran. Doch die Unterschiede verwischten sich, als Schottland von der industriellen Revolution mitgerissen wurde – der nun stetig wachsende Wohlstand der Ober- und Mittelschicht verdrängte die bisherigen Zweifel an der Union, auch die Arbeiterschaft profitierte mit Zeitverzögerung davon. Erstmals kam eine Art britische Identität auf, wozu auch das Empire beitrug. Es schmiedete die Teile der Union eng zusammen, sie alle waren das Mutterland eines weltumspannenden Reiches.

Viele Schotten waren begeisterte Imperialisten

Und viele Schotten waren begeisterte Imperialisten. Sie wanderten auch gern in die Kolonien und Dominions aus, Kanada, Neuseeland, Australien. Glasgow nannte sich Second City des Empire, nach der Metropole London. Bis ins 20. Jahrhundert hinein war Schottland ein wesentlicher Part des „workshop of the world“, der britischen Weltwerkstatt. Doch das erwirtschaftete Kapital blieb oft nicht in Schottland, es suchte sich verlockendere Renditen in Übersee. Und verteilt wurde das Geld vor allem von London aus, auch wenn der schottische Finanzsektor bis heute recht groß ist. Doch dann fing das Empire an zu bröckeln. Und als der Schiffs- und Lokomotivenbau, das Rückgrat der schottischen Industrie, zu schrumpfen begann, war das nötige Kapital nicht da, um die regionale Wirtschaft neu zu orientieren, um modernere Industrien aufzubauen. Schottland traf die Deindustrialisierung hart, härter als andere Regionen. Die Entscheidung der Londoner Regierung von 1966, ganz Schottland zum Entwicklungsgebiet zu erklären, war möglicherweise ein entscheidender Wendepunkt. Einerseits flossen seither zwar hohe Hilfssummen gen Norden, aber es war den stolzen Schotten nun auch klar, wo sie gelandet – und von wem sie abhängig waren.

Zustimmung stetig gewachsen

1967 gewann die Scottish National Party, 1934 gegründet und bis dahin eine kleine, unbedeutende Partei, sensationell eine Nachwahl zum britischen Parlament. Seither ist die Zustimmung zur SNP stetig gewachsen. Ihr Kernprogrammpunkt war stets die Unabhängigkeit. Und als in den 70er Jahren die Einkünfte aus den Ölbohrungen in der Nordsee vor der schottischen Küste wuchsen, da glaubte man, auch eine finanzielle Grundlage für die Eigenstaatlichkeit zu haben – das „schwarze Gold“.

Dass die (ideologisch heute eher links stehende) SNP stark werden konnte, hat auch mit Labour und Konservativen zu tun. Die Partei der Arbeit hatte die Liberalen als dominierende Partei in Schottland nach dem Ersten Weltkrieg abgelöst, und Labour dominierte hernach noch mehr. Viele Wahlkreise galten als gesetzt, was die Partei dazu verführte, schottische Anliegen zu vernachlässigen – man gewann ja ohnehin. Tony Blairs New Labour war dann wenig nach dem Geschmack der eher traditionalistischen schottischen Parteianhänger, und die SNP gibt sich betont traditionell-sozialdemokratisch.

Die Tories wiederum bekommen als unionistische Kraft in Schottland seit einem halben Jahrhundert kaum noch einen Fuß auf den Boden und interessierten sich deshalb nicht mehr für schottische Belange. Der Wirtschaftsliberalismus der Thatcher-Regierung kam zudem nördlich der Border ganz schlecht an, was die Aversion gegen „Westminster“ noch steigerte. Die Entfremdung war nun nicht mehr zu übersehen.

Erst Home Rule, dann Parlament

Den ersten Schritt zu mehr politischer Eigenständigkeit hatten noch die Liberalen gemacht, unter dem Premierminister William Gladstone, der viele Jahre den Wahlkreis Midlothian südlich von Edinburgh vertrat. Mit der Home-Rule-Gesetzgebung für Irland und Schottland wurde 1885 das Schottland-Ministerium gegründet, Sitz natürlich in London. Den ersten Versuch, wieder ein schottisches Parlament einzusetzen, durchkreuzte der Erste Weltkrieg. Allerdings gab es in Westminster immer eine Art schottisches Unterparlament, ein Komitee aller schottischen Abgeordneten, das in rein schottischen Angelegenheiten das Gesamtplenum ersetzte.

1979 kam es schließlich zu einer ersten Volksabstimmung über die Dezentralisierung (Devolution) politischer Macht, eine Mehrheit der Stimmen war dafür, doch das 40-Prozent-Quorum der Wahlberechtigten wurde verfehlt. 1997 dann votierten die Schotten für die Errichtung eines eigenen Parlaments in Edinburgh, das 1999 zusammentrat. Das Scottish Office wurde in die schottische Hauptstadt verlegt, seit 2007 lautet die offizielle Formel Scottish Government, der SNP-Politiker Alex Salmond wurde Erster Minister. 2011 gewann die SNP die absolute Mehrheit und handelte mit der Regierung in London das Unabhängigkeits-Referendum aus. Der Rest wird Geschichte sein - so oder so.

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