Günther Oettinger: „Die Gefahr ist allen bewusst“
EU-Haushaltskommissar Günther Oettinger spricht im Interview über den Populismus-Alarm vor der Europawahl, Flüchtlinge und Deutschlands EU-Beitragszahlungen.
Herr Oettinger, können Sie eine bestimmte Urlaubslektüre empfehlen?
Demnächst geht es in den Urlaub an die Ostsee, und da nehme ich erstens Robert Menasses „Die Hauptstadt“ mit – ich bin bislang immer noch nicht dazu gekommen, diesen Roman zu lesen. Dann will ich mir noch einmal im Detail die Reaktionen der Mitgliedstaaten auf unseren Haushaltsentwurf für die Jahre von 2021 bis 2027 anschauen. Die will ich lesen, um für die Beratungen, die im Herbst und Winter stattfinden, bestens gerüstet zu sein. Und dann habe ich mir (lacht) das erste Kapitel des deutschen Koalitionsvertrages herausgezogen, weil ich mir noch einmal vor Augen halten will, mit welch hohem Anspruch die Koalition in Berlin gestartet ist. Das Kapitel trägt bekanntlich die Überschrift „Ein neuer Aufbruch für Europa“.
Sie vermissen einen europapolitischen Aufbruch in Deutschland – gerade angesichts der bevorstehenden Europawahl?
Die Europawahl hat mindestens dieselbe Bedeutung wie die Bundestagswahl. Deshalb müssen alle, die in den demokratischen Parteien mitarbeiten, die verbleibende Zeit bis zur Europawahl nutzen, um sich schwerpunktmäßig um europäische Themen zu kümmern. Und im Europaparlament gibt es jetzt noch ein Zeitfenster von wenigen Monaten, um viele wichtige Gesetzgebungsprojekte abzuschließen.
Gegenwärtig zählen rund ein Drittel der EU-Abgeordneten zum Lager der EU-Skeptiker. Befürchten Sie, dass dieser Anteil nach der Europawahl noch zunimmt?
Allen pro-europäischen Kräften von Mitte-links bis Mitte-rechts ist diese Gefahr bewusst, auch wenn sich die Anzahl der EU-Skeptiker mit dem Ausscheiden der britischen Ukip-Abgeordneten absehbar verringern wird. Auch nach dem kommenden Mai muss eine klare Mehrheit von Abgeordneten zu Stande kommen, die Europa konstruktiv gestalten wollen. Dazu brauchen wir vor allem eines: eine höhere Wahlbeteiligung.
Mit welchen Themen sollen die Wähler angelockt werden?
Es geht zuallererst um die Souveränität Europas. Europa muss wie ein Team zusammenhalten: Der Besuch von Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker in Washington hat gezeigt, wie viel die EU gemeinsam zustandebringen kann – denn die Gefahr einer weiteren Eskalation im Handelsstreit ist zunächst gebannt. Zweitens geht es um unsere Wettbewerbsfähigkeit. Wenn man sieht, welche Dynamik von der digitalen Revolution ausgeht und wie China das Silicon Valley kopiert, dann kommt man zu dem Schluss: Wir brauchen eine gemeinsame Forschungs- und Digitalisierungsstrategie.
Und drittens geht es um unsere Sicherheitsinteressen: Europa muss jetzt erwachsen werden und seine innere und äußere Sicherheit selbst in die Hand nehmen. Auch die Frage der Migration ist ein Thema für die Europawahl. Aber wir sollten dabei nicht nur über die beschämende Odyssee von Flüchtlingen zwischen Malta, Italien und Spanien sprechen, die uns gegenwärtig bewegt. Es geht nicht nur um die Flüchtlinge des Jahres 2018, sondern auch um die Flüchtlinge des Jahres 2025 – also um die Migrationsbewegungen, mit denen sich das nächste EU-Parlament wird befassen müssen. Wir brauchen eine kluge, gemeinsame EU-Afrikastrategie.
Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz, dessen Land gegenwärtig den EU-Vorsitz innehat, konzentriert sich vor allem auf den Schutz der EU-Außengrenzen. Reicht das aus?
Der Schutz der EU-Außengrenzen ist nur ein Baustein einer umfassenden Strategie in der Migrationspolitik, nicht mehr und nicht weniger. Wie gesagt: Unsere Politik in der EU muss dazu beitragen, dass im Jahr 2025 nicht noch mehr Menschen in Afrika vor Hungersnot, Armut oder Religionskriegen fliehen. Darüber hinaus müssen wir, wo immer das möglich ist, tragfähige Abkommen mit Drittstaaten abschließen, um Menschen auf Zeit Sicherheit in ihrer Heimatregion zu bieten und diesen Schutz auch zu finanzieren. Das betrifft den Maghreb oder die Sahel-Zone. Und drittens haben Flüchtlinge auf hoher See im Mittelmeer einen Anspruch auf Rettung und Fürsorge. Die Staaten, die sie aufnehmen, brauchen unsere Unterstützung. Jeder Flüchtling, der in Italien oder Griechenland ankommt, ist ein Flüchtling, um den sich Europa kümmern muss.
Stichwort Italien: Beunruhigt es Sie, dass Italiens Innenminister Matteo Salvini erklärt hat, die EU-Defizitregeln seien keine Bibel?
Die Regeln sind schon deshalb keine Bibel, weil die Bibel einmalig ist. Aber die Regeln sind im Interesse aller Mitgliedstaaten in der Euro-Zone und aller Bürger. Bei der Defizitregel, welche die Neuverschuldung betrifft, machen die 19 Euro-Länder Fortschritte: Im Haushaltsjahr 2017 sind erstmals alle Euro-Mitgliedstaaten unter der Defizitgrenze von drei Prozent der Wirtschaftsleistung geblieben. Die Defizitregeln schaffen Vertrauen bei denen, die Kredite vergeben. Allerdings liegt die Euro-Zone bei der Gesamtverschuldung im Durchschnitt noch immer über der eigentlich vorgesehenen Höchstgrenze von 60 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. In Italien beträgt der Schuldenstand rund 130 Prozent der Wirtschaftsleistung. Deshalb müssen wir alle gemeinsam darauf achten, dass das Vertrauen der Gläubiger, die in Staatsanleihen investieren, nicht gefährdet wird.
Was Oettinger über den deutschen Beitrag zum EU-Haushalt denkt
Im Mai haben Sie den Entwurf für die nächste Haushaltsperiode zwischen 2021 und 2027 vorgestellt. Dabei sind unter anderem Kürzungen bei den Agrarsubventionen und den Kohäsionsfonds, den wichtigsten Strukturhilfen der EU, vorgesehen. Werden die Mitgliedstaaten das mitmachen?
Zunächst einmal: Die beiden Töpfe bleiben auch trotz der von mir vorgeschlagenen Kürzungen die größten Haushaltsprogramme der Europäischen Union. Aber es ist jetzt schon erkennbar, dass es umfassende und strittige Debatten um die Agrar- und Kohäsionsfonds geben wird. Bei einer Minderheit der Mitgliedstaaten wird die Forderung erhoben, dass die Kürzungen noch stärker ausfallen sollten. Der Großteil der Länder hält die Kürzungen hingegen nicht für akzeptabel, weil es aus ihrer Sicht eine Vielzahl von Projekten gibt, die aus EU-Mitteln kofinanziert werden sollten. Wir haben maßvoll gekürzt. Gleichzeitig sind neue Aufgaben für die EU hinzugekommen, die wir in der nächsten Haushaltsperiode finanzieren müssen - bei der Verteidigung, der Migration und beim Grenzschutz. Auch die Forschungsmittel und das Programm Erasmus plus, mit dem Studenten und Praktikanten Auslandsaufenthalte ermöglicht werden, wurden deutlich erhöht. Eines lässt sich in jedem Fall bei allen Diskussionen festhalten: Der Haushaltsentwurf der Kommission wird von allen als Grundlage für die Verhandlungen akzeptiert.
Sie möchten, dass der Haushalt noch vor der Europawahl verabschiedet wird. Ist der Wille für eine rasche Einigung bei den Mitgliedstaaten überhaupt vorhanden?
Auf der Fachebene kommen wir gut voran. Jetzt kommt es aber darauf an, dass auf der politischen Ebene – also bei den Außen-, Europa- und den Finanzministern – die Beratungen Priorität erhalten. Wenn dann in den allermeisten Bereichen Übereinstimmung erzielt wurde und es in anderen noch entscheidende Vorgaben braucht, sollten die Staats- und Regierungschefs diese bei einem regulären Treffen oder bei einem Sondergipfel machen. Dann könnte es bis Ostern nächsten Jahres mit der Verabschiedung klappen.
Die Bundesregierung ist zwar zu einem höheren Beitrag in die EU-Kasse bereit. Finanzminister Scholz hat aber bereits gefordert, den EU-Haushalt bei 1,0 Prozent der europäischen Wirtschaftsleistung zu deckeln. Sie fordern 1,1 Prozent - was einen milliardenschweren Unterschied macht.
Ich gehe davon aus, dass sich die Bundesregierung da noch bewegt. Das Ganze ist ein Pokerspiel. Wenn Finanzminister Olaf Scholz von einem Volumen des Etats von 1,0 Prozent der europäischen Wirtschaftsleistung spricht, dann sehe ich das erst einmal als eine erste Offerte. Aber klar ist auch: Das Angebot von Scholz steht im Widerspruch zum Koalitionsvertrag. Dort heißt es, dass die EU finanziell gestärkt werden soll, damit sie ihre Aufgaben besser wahrnehmen kann. Ich werde Olaf Scholz und die Kanzlerin bei den anstehenden Beratungen über den EU-Haushalt an den genauen Wortlaut des Koalitionsvertrages erinnern.
Die Verhandlungen über den EU-Etat würden mit weniger Härte geführt werden, wenn durch den Brexit keine Finanzierungslücke entstünde. Wie geht es beim Brexit weiter? Gibt es eine gütliche Scheidung oder doch einen „harten Brexit“?
Wir haben nach der Sommerpause noch zwei bis drei Monate Zeit, um eine Lösung zu finden, die gewährleistet, dass keine neuen Grenzkontrollen zwischen Nordirland und der Republik Irland entstehen. Zudem muss über die künftigen Wirtschaftsbeziehungen geredet werden. Das Weißbuch, das die britische Regierungschefin Theresa May vorgelegt hat, ist ein Schritt in die richtige Richtung. Es reicht aber noch nicht aus. Wir alle wissen, dass ein harter Brexit einen enormen Schaden für das Vereinigte Königreich bedeuten würde, aber auch für die 27 EU-Staaten. Deshalb sollten wir die Zeit bis November nutzen, um zu einem intelligenten Brexit zu kommen.
Als Rückfalloption will die EU festschreiben, dass notfalls eine Zollgrenze zwischen Nordirland und der britischen Insel errichtet wird. May lehnt dies aber strikt ab. Wie kann das Problem gelöst werden?
Mit unserer Forderung wollen wir verhindern, dass wieder Grenzkontrollen auf der irischen Insel eingeführt werden. Solche Kontrollen würden die guten Entwicklungen der letzten Jahrzehnte wieder zunichte machen. Nach den Jahren des Bürgerkriegs nehmen die Menschen auf der ganzen Insel die frühere Grenze inzwischen gar nicht mehr wahr. Kontrollen an dieser Stelle wären also gefährlich. Andererseits brauchen wir an einer anderen Stelle solche Kontrollen, um einen Missbrauch des gemeinsamen Binnenmarktes der EU zu verhindern. Deshalb wäre es am besten, wenn die Briten in der Zollunion der EU bleiben würden.
Zu den Debatten, die in der EU immer wieder auftauchen, gehört die Forderung nach einem einzigen Sitz des EU-Parlaments. Sollten künftig auch die Plenarsitzungen von Straßburg nach Brüssel verlegt werden?
Das ist eine populistische Debatte. Ich bin dafür, die Plenumsdebatten in Straßburg aufrecht zu erhalten. So steht es auch im EU-Vertrag. Die Entscheidung für Straßburg ist auch in geschichtlicher Hinsicht richtig: Straßburg ist auch ein Symbol des Friedens zwischen Deutschland und Frankreich.
Das Gespräch führte Albrecht Meier.
Albrecht Meier