Gazastreifen: Die Gefahr einer Eskalation mit Israel steigt
Raketen, Terror und große Not: Warum die Gefahr einer militärischen Eskalation im Gazastreifen immer größer wird.
Den Taten folgten Worte. Nach den Raketenangriffen auf Ziele im Gazastreifen am Wochenende veröffentliche Israel zwei Tage später eine Video-Botschaft. „Wir wissen, dass die gewaltsamen Proteste an der Grenze genutzt werden, um Terroraktivitäten zu decken. Wir werden nicht zulassen, dass so etwas noch einmal passiert“, betonte Generalmajor Yoav Moderchai, Chef der israelischen Militärbehörde COGAT, in dem am Montag veröffentlichten Clip auf Arabisch. „Ich sage es ganz deutlich: Von heute an wird die israelische Armee hart und entschlossen auf Unruhen an der Grenze zum Gazastreifen reagieren.“
Es war die schwerwiegendsten Auseinandersetzung im Süden seit dem Gazakrieg im Sommer 2014, die den COGAT-Chef zu einer derartigen Ansage veranlassten. Am Sonnabend war während einer palästinensischen Demonstration entlang des Grenzzauns nahe der Stadt Chan Junis ein Sprengsatz explodiert, vier israelische Soldaten wurden verletzt. Die Armee schoss daraufhin auf einen Wachposten in Gaza, Palästinenser feuerten Raketen auf Israel ab. Die Luftwaffe des jüdischen Staats flog mehr als 18 Angriffe auf Ziele im Küstenstreifen.
Die Lage ist heikel wie lange nicht mehr. „Wir bewegen uns auf dünnem Eis. Meines Erachtens gibt es Gründe anzunehmen, dass eine Eskalation bevorsteht“, vermutet Uzi Rabi, Direktor des Moshe Dayan Center for Middle Eastern and African Studies an der Tel Aviv Universität. Dass die Gefechte ausgerechnet eine Woche nach den Kämpfen an der Nordgrenze zu Syrien folgten, hält Rabi für keinen Zufall. „Der Iran hat Interesse daran, so viele Fronten wie möglich gegen Israel aufzubauen. Und Gaza war seit jeher eine gute Plattform für den Iran. Das ist also ein Nebenprodukt dessen, was wir im Norden gesehen haben.“
Zwar geht die Armee davon aus, dass die in Gaza herrschende Hamas kein Interesse an einer Auseinandersetzung hat. Doch die Islamistenorganisation ist geschwächt. Die Versöhnung mit der Fatah von Präsident Mahmud Abbas lässt auf sich warten. „Zudem haben die Ägypter drastische Schritte gegen Schmuggelaktivitäten unternommen. Und das Geld, das die Hamas einst von sunnitischen Staaten erhalten hat, landet nicht mehr in ihren Händen“, erklärt Nitzan Nuriel, vom Institut für CounterTerrorism in Herzliya. „In solch einer Lage macht die Hamas Fehler: Sie lässt zu, dass andere Gruppen das tun, was wir jüngst gesehen haben“, sagt Nitzan Nuriel. Auch Israel Verteidigungsminister Avigdor Lieberman vermutet, dass das „Volkswiderstandskomitee“, ein Bündnis mehrerer Terrorgruppen, für den Sprengsatz am Grenzzaun verantwortlich war. Dennoch griff Jerusalem als Reaktion Stellungen der Hamas an. Denn Jerusalem macht die Islamisten für alles verantwortlich, was in ihrem Machtbereich passiert.
Die schlechte wirtschaftliche Lage könnte ebenfalls zum Krieg mit der Hamas führen
Als ein weiterer Eskalationsfaktor gilt die schlechte wirtschaftliche und humanitäre Lage im Küstenstreifen. Diese könnte ebenfalls zu einem Krieg mit der Hamas führen, warnte vor einigen Tagen Armeechef Gadi Eisenkot. Helfer vor Ort warnen sogar, Gaza mit seinen zwei Millionen Einwohnern drohe regelrecht zu kollabieren. Besonders dramatisch wirken sich derzeit die Engpässe bei der medizinischen Versorgung aus. Kliniken und Gesundheitszentren benötigen für die Behandlung der Patienten Maschinen, die über Dieselgeneratoren betrieben werden. Doch die Energiekrise führt dazu, dass die Geräte oft stillstehen.
Immer schwieriger wird nach Einschätzung der UN auch die Situation bei den Lebensmittelhilfen. Rund eine Million Gazaner sind darauf angewiesen, dass die Vereinten Nationen ihnen Mehl, Reis und Zucker kostenlos zur Verfügung stellen. Den vielen Bedürftigen fehlt das Geld, um das Nötigste selbst einzukaufen. Die Arbeitslosigkeit liegt offiziell bei 60 Prozent.
Nun warnt das Palästinenserhilfswerk (UNRWA) davor, es müsse womöglich bald seinen Service einstellen. Was vor allem daran liegt, dass die USA einen erheblichen Teil ihrer Unterstützung für UNRWA eingefroren haben. „Noch gibt es eine Art Verschnaufpause für uns, weil andere Länder bereits vorzeitig Zahlungen geleistet haben“, sagt Matthias Schmale, der als UNRWA-Direktor für Gaza zuständig ist. Aber die Finanznöte könnten dazu führen, „dass wir als Garant von Stabilität unsere Dienstleistungen drastisch reduzieren müssen“. Wenn das passiere, würden dort Frust und Gewalt zunehmen. Mit Folgen weit über Gaza hinaus.
Christian Böhme, Lissy Kaufmann