Ultraorthodoxe in der israelischen Armee: Der Soldat Gottes
Shlomo Miller will nur seinem Glauben dienen – und nicht der israelischen Armee. Selbst wenn ihn seine Haltung ins Gefängnis bringt.
Shlomo Miller hatte damit gerechnet, dass sie irgendwann kommen würden. „Wir hatten alles genau geplant“, erzählt der 23-Jährige. In einer Nacht im Februar 2015 klopfen die Armeepolizisten um 4 Uhr an die Wohnungstür seiner Eltern. „Ich habe mich schnell angezogen und bin über den Balkon auf das Dach geflüchtet“, erinnert sich Miller. „Dort habe ich mich flach auf den Boden gelegt.“ Die Mutter öffnet die Tür, die Militärpolizisten glauben ihr aber nicht, dass Shlomo nicht da ist. „Sie haben gefühlt, dass das Bett noch warm war, und begannen zu suchen. Die Leiter auf dem Balkon hat mich verraten.“ 18 Tage lang muss Shlomo Miller ins Militärgefängnis, weil er nicht auf den Rekrutierungsbescheid der israelischen Armee reagiert hat.
Drei Jahre später sitzt er in einem koscheren Café im orthodoxen Jerusalemer Stadtteil Givaat Shaul. Dort, wo Frauen der Züchtigkeit wegen ihre Haare mit Kopftüchern und Perücken bedecken und ihre Beine mit langen Röcken, Männer schwarze Hüte und Mäntel tragen und dreimal am Tag zum Gebet eilen. Shlomo Miller ist einer von ihnen. Ein großer, rundlicher junger Mann mit dunklen Haaren und einer randlosen Brille. Den schwarzen Hut, den Kneitsch, hat er auf die Seite des Tisches gelegt. Sein Blick ist wach, seine Worte sind wohl durchdacht. Nach einem Rebellen, der sich gerne mit der Polizei anlegt, klingt er nicht. „Nur wenn Menschen zweifeln, haben sie auch Angst“, sagt er. Miller aber ist sich bis heute sicher, das Richtige getan und sich an die Gesetze gehalten zu haben – die Gesetze Gottes.
Shlomo Miller ist ein strenggläubiger Jude, ein sogenannter Charedi, ein Gottesfürchtiger. Sein ganzes Leben richtet er nach den 613 Mitzwot, den jüdischen Geboten aus, er trennt nach den Koscherregeln milchige von Fleischspeisen und hält die Schabbatruhe ein. Das heißt, er unterlässt jegliche Aktivitäten, die gemäß den jüdischen Regeln als Arbeit definiert werden: fährt also nicht Auto, nutzt keine elektrischen Geräte.
Von der offenen, liberalen, säkularen Welt mit ihrer Freizügigkeit hält er sich fern, so gut es geht. Er hat keinen Fernseher, kein Smartphone und nutzt das Internet nur, wenn ein Koscherfilter jene Seiten ausblendet, die Bilder von Frauen – auch mit Kleidung – oder unzüchtige Beschreibungen enthalten. Oder die der reinen Unterhaltung dienen: Zeit soll nicht vergeudet werden.
Und Shlomo Miller ist Jeschiwa-Student. Er lernt ganztags in der Küstenstadt Ashdod die religiösen Schriften. Für ihn und die meisten anderen Strenggläubigen ist das unvereinbar mit dem Dienst in der Armee. „Mir war schon als kleiner Junge klar, dass ich nicht dienen werde“, sagt Shlomo Miller. Wie schon sein Vater und seine älteren Brüder sowie die meisten Ultraorthodoxen in Israel nicht. Doch mehr noch: Shlomo Miller will überhaupt nichts mit der Armee zu tun haben, noch nicht einmal im Rekrutierungsbüro erscheinen, um mitzuteilen, dass er Jeschiwa-Student ist. So wäre er ganz legal vom Wehrdienst befreit. Doch selbst das kommt für Shlomo Miller nicht infrage.
Der Konflikt verschärft sich
Die Weigerung zehntausender Ultraorthodoxer, zu dienen, ihr Kampf gegen jegliche Kooperation mit der Armee, hat die israelische Gesellschaft tief gespalten: Auf der einen Seite die Säkularen und jene weniger streng Religiösen, die zur Armee müssen – Männer für fast drei Jahre, Frauen knapp zwei Jahre lang. Auf der anderen Seite die Strenggläubigen, die stattdessen lieber in den Thoraschulen lernen, weil das für sie die einzig richtige Lebensweise ist.
Weil der Anteil der Charedim an Israels Bevölkerung kontinuierlich steigt, verschärft sich der Konflikt. Kurz nach der Staatsgründung gab es nur rund 400 strengreligiöse junge Männer, die Ministerpräsident David Ben Gurion vom Dienst an der Waffe befreite – eine winzige Minderheit. Doch die kinderreichen Familien wuchsen. Auch Shlomo Miller hat sechs Brüder und drei Schwestern. Heute leben eine Million Charedim in Israel, sie machen zwölf Prozent der Bevölkerung aus. Bis 2065 soll Prognosen zufolge ein Drittel der Israelis charedisch sein. Mit den ultraorthodoxen Familien wuchs auch die Wut jener, die in der Armee Jahre ihrer Jugend für das Land opfern und teilweise auch ihr Leben riskieren. Die israelischen Streitkräfte seien längst keine Armee des Volkes mehr, schimpfen sie.
„Steige ich in ein Taxi“, sagt Shlomo Miller, „ist die erste Frage des Fahrers: Warum dienst du eigentlich nicht in der Armee?“ Die Frage hat sich zum zentralen Thema entwickelt, das die beiden Welten noch weiter auseinandertreibt.
Nachdem 2012 zehntausende Israelis auf die Straße gegangen waren und einen Wehrdienst für alle gefordert hatten, versprach der Politiker Yair Lapid mit seiner Partei Jesch Attid eine „gleiche Verteilung der Lasten“. 2013 schaffte es Jesch Attid in die Regierungskoalition und boxte die Pläne durch: In den kommenden Jahren sollten nach und nach alle Charedim eingezogen werden – bis auf 1800 herausragende Thorastudenten, die weiterhin lernen dürften. Doch Lapids Pläne scheiterten, die Revolution bliebt aus: 2015 gab es Neuwahlen, der Messias der Säkularen war raus aus der Regierung und die Ultraorthodoxen wieder drin. Yair Lapids Gesetz wurde entschärft, es blieben lose formulierte Ziele. 2016 dienten immerhin 2850 von geschätzt 60 000 männlichen Charedim im wehrpflichtigen Alter zwischen 18 und 26 Jahren.
Sein Kommandeur: der Rabbi
Die Mehrheit von ihnen ist freiwillig in der Armee. Und wer ernsthaft in der Jeschiwa studiert, muss nur zum Rekrutierungsbüro gehen und genau das mitteilen. Damit wird seine Rekrutierung um ein Jahr verschoben. Er kann das bis zum 26. Lebensjahr wiederholen, danach wird er endgültig freigestellt. Einige Charedim lassen sich auf diesen Deal ein. Doch die besonders radikalen Gläubigen finden, dass nicht nur sie selbst, sondern gar kein Charedi dienen sollte, auch nicht knapp 3000 Freiwillige. Shlomo Miller sieht das so: Die Armee nutzt die Schwachen der charedischen Gesellschaft, diejenigen, deren Glauben nicht stark genug ist, die sich leicht überreden lassen.
„Rabbi Auerbach hat von einem Krieg gesprochen. Wenn du der Armee einen Finger gibst, wollen sie die ganze Hand“, erklärt Shlomo Miller. Der Kampf habe begonnen und er ist darin der Soldat Gottes. Rabbi Schmuel Auerbach ist sein Kommandeur: ein 87-jähriger Mann mit schneeweißem Bart und Schläfenlocken. Er ist einer der bedeutenden Rabbiner in Jerusalem mit etlichen Anhängern. Bei seinen Auftritten füllen tausende Männer große Hallen, sie singen im Chor, jubeln ihm zu wie einem Popstar. Er war es, der seiner Gefolgschaft nahelegte, künftig gar nicht mehr mit der Armee in Kontakt treten. Immer wieder ruft er zu Protesten auf und treibt alleine in Jerusalem zehntausende wütende junge Charedim auf die Straßen, ein Meer aus schwarzen Hüten und langen Mänteln.
Wo in anderen Gesellschaften die junge Generation rebelliert, versuchen die Charedim, jahrhundertealte Traditionen, Werte und Lebensweisen aufrechtzuerhalten. „Wir wollen, dass alles so bleibt, wie es ist“, sagt Miller. Der Armeedienst, da ist er sich sicher, würde alles verändern – möglicherweise auch ihn selbst. „Ich habe einen Cousin, der zur Armee gegangen ist. Der war danach ein anderer Mensch. Immer noch religiös, aber plötzlich hatte er ein Smartphone.“ Das käme für ihn nie infrage. Miller greift in die Innentasche seiner Jacke und zückt ein kleines schwarzes Handy mit Tasten. „Das hier ist ein koscheres Telefon, ich kann damit nur telefonieren, sonst nichts“, sagt er.
Die Charedim fluchen nicht, sie sprechen nicht über das andere Geschlecht, nicht über Sex, Geschlechtsteile werden nicht beim Namen genannt. Selbst das Wort „schwanger“ ist tabu, es heißt: „in anderen Umständen“. „In der Armee wird geflucht, der Umgangston ist ein anderer“, sagt Miller. „So reden wir nicht.“
Besondere Bedürfnisse
Die Klimaanlage rattert und bläst kühle Luft in das Büro von Brigadegeneral Eran Shani in der Kirya, dem Hauptsitz der israelischen Armee im Stadtzentrum Tel Avivs. Von hier aus kümmert er sich um die Rekrutierung der Charedim, deren Bedürfnissen sich die Armee, wie er findet, immer mehr annimmt. Er erklärt, dass die Armee längst Bataillone speziell für die Strengreligiösen gegründet hat, in denen sie nach ihren religiösen Regeln dienen können. Frauen sind in diesen Einheiten tabu, das Essen entspricht besonders strengen Koschervorschriften. Die Männer bekommen auch Zeit zum Beten.
David Soldan, ein strengreligiöser Mann im dunklen Pulli, mit Bart und schwarzer Kippa, war einer der Ersten, der in einer charedischen Einheit war. Heute sitzt der 37-Jährige gegenüber der Zentrale der Armee auf einer Bank in einem renovierten Einkaufsviertel mit kleinen Boutiquen, Cafés und Restaurants. Er arbeitet mittlerweile als Medienberater. Trotz seiner Zeit in der Armee ist er religiös geblieben – und würde jederzeit wieder dienen. Obwohl er beim Militär auf Frauen traf und hörte, wie andere Soldaten über Dates und Mädchen sprachen. „Plötzlich traf ich auf diese säkulare Welt, in der ich nicht aufgewachsen bin“, sagt Soldan. Er habe auch gesehen, wie Charedim beim Militär vom rechten Weg abgekommen seien. „Wer aber mit starkem Charakter und einem festen Willen in die Armee geht, wird sich nicht so leicht von der Religion abbringen lassen.“
Es gibt Studien, die belegen, dass Charedim, die in der Armee gedient haben, auf dem Arbeitsmarkt besser unterkommen. „Sie lernen hier Routine, müssen früh aufstehen, und sie erhalten etwas Geld, das sie mit nach Hause bringen“, erklärt Brigadegeneral Shani. Doch Hardliner unter den Charedim wollen überhaupt nicht arbeiten, schon gar nicht in der säkularen Welt. Männer wie Shlomo Miller können sich höchstens vorstellen, Thoraschreiber oder Lehrer an einer religiösen Schule zu werden. Nur die Hälfte der ultraorthodoxen Männer hat einen Job, der Rest lernt immer weiter. Geld kommt von Spenden und vom Staat. Manchmal sind es auch die Frauen, die arbeiten gehen und das Einkommen für die Familien erwirtschaften.
Was wäre das Land ohne jüdische Regeln?
Die Armee, die Arbeitswelt: Für manche eine Gefahr, die die Welt der Charedim zerstören könnte. Sie sehen sich als die einzigen Bewahrer des Judentums: Was wäre das Judentum, was wäre Israel ohne jüdische Regeln? Traditionen? Koscheres Essen und Schabbatruhe? Wenn alle so leben, wie sie wollen, was hält das Judentum dann noch zusammen?
Dass Israel aber auch deshalb in Gefahr ist, weil einige Nachbarstaaten sich die Auslöschung des jüdischen Staates zum Ziel gesetzt haben, sehen auch die Ultraorthodoxen. Doch Gottesfürchtige wie Shlomo Miller glauben, dass nicht die israelische Armee das für sie regeln wird, sondern Gott. „In der Bibel steht, dass es wichtiger ist, sich hinzusetzen und zu lernen, als zu kämpfen“, sagt Miller und erzählt eine Geschichte aus der Thora, in der Gott eine Armee besiegte, indem er eine Krankheit über sie kommen ließ. „Ein Mann darf sein Leben nicht in einer Armee riskieren, die voller Sünden steckt.“
Wegen Männern wie Shlomo Miller müssen sich Israels Gesetzgeber etwas Neues einfallen lassen. Nach der jüngsten Entscheidung des Obersten Gerichtshofes von 2017 ist die derzeitige Regelung gesetzeswidrig, da sie gegen das Gleichheitsprinzip verstößt. Brigadegeneral Shani glaubt nicht, dass tatsächlich irgendwann alle Charedim dienen werden. „Diejenigen, die mit ganzem Herzen von morgens bis abends studieren, die werden nicht in die Armee gehen“, sagt Shani. „Und damit haben wir auch kein Problem.“ Jene aber, die diese Regelung nur ausnutzen und vorgeben zu studieren, während sie nichts tun oder arbeiten und Geld verdienen, versucht die Armee verstärkt zu enttarnen und zum Dienst zu zwingen.
Der Rest muss zumindest im Rekrutierungsbüro erscheinen. Auch Shlomo Miller hat von der Armee nach der Entlassung aus dem Gefängnis noch einmal den Bescheid bekommen, er solle sich melden. „Das habe ich bisher aber nicht gemacht“, sagt er. „Und werde es auch nicht tun.“ Sie können noch einmal vor seiner Tür stehen, sie könnten ihn noch einmal ins Gefängnis stecken. Shlomo Miller, der Krieger Gottes, hat keine Angst.
Lissy Kaufmann