CSD in Berlin: Die Freiheit unserer Zeit
Die queere Szene trifft sich in Berlin und feiert. Die Stadt ist nicht nur an diesem Wochenende ihr Sehnsuchtsort. Doch im Alltag ist die Freiheit noch immer eingeschränkt. Ein Kommentar.
Ist nicht das ganze Leben divers? Müssen wir nicht schon allein darum Diversität leben? Immer mehr? Das ist doch die Freiheit unserer Zeit: dass Menschen sein können, wie sie sind und wer sie sind. Dass sie sich frei entscheiden können. Allein in den sozialen Netzwerken werden 60 Geschlechter angeboten. Ja, unverändert „männlich“ oder „weiblich“, aber beileibe nicht mehr nur. „Zweigeschlechtlich“, „transsexuell“, „androgyn“ – sagen wir: LGBTI. Es ist doch so: Manche(r) kann oder will das Geschlecht, oder nennen wir es Kategorie, nicht sagen. Was das dann ist? Selbstbestimmung. Und das wiederum ist: Teil der Identität.
Hier in Berlin ist eine der größten LGBTI-Communities Europas, wenn nicht gar weltweit zu Hause. In den vergangenen Jahren sind immer mindestens 500.000 Menschen zum Berliner CSD gekommen, und fast ebenso viele zum lesbisch-schwulen Stadtfest, das eine Woche zuvor stattfindet: nämlich 350.000.
Beide gehören zu den größten queeren Paraden und Festen weltweit überhaupt, und der CSD ist damit auch die größte Demo in Berlin.
Berlin war zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht nur der Geburtsort der modernen homosexuellen Emanzipationsbewegung (bis die Nazis dem ein Ende machten), sondern gehört heute in allen Umfragen zu den queer-freundlichsten Metropolen der Welt: Unsere schöne Stadt ist also ein globaler queerer Sehnsuchtsort.
So weit zum Jetzt. Jetzt zum Morgen: Im Alltag ist die Freiheit vieler queerer Menschen trotz aller rechtlichen Fortschritte immer noch eingeschränkt. Sei es, weil sie auf dem Schulhof gemobbt werden: „Schwule Sau“ gehört immer noch zu den beliebtesten Schimpfworten. Oder weil sie am Arbeitsplatz nicht offen sein können oder wollen. Laut einer Umfrage halten ein Drittel aller Arbeitnehmer ihre Homosexualität am Arbeitsplatz geheim. Oder weil sie Opfer von Übergriffen auf offener Straße werden – diese Zahl steigt leider in Berlin.
Minderheitenrechte sind Menschenrechte, eine Demokratie misst sich nicht zuletzt daran, wie sie mit ihren Minderheiten umgeht. Wer eine Minderheit angreift, stellt auch das Selbstverständnis unserer Gesellschaft und unserer Demokratie infrage. Eigentlich sollte man das in unseren Zeiten gar nicht erwähnen müssen. Doch gerade in rechtspopulistischen Diskursen wird das inzwischen umgedreht. Jetzt müssen sich Minderheiten plötzlich dafür rechtfertigen, dass sie gleichberechtigt sein wollen. Ihnen wird sogar manchmal vorgeworfen, ihre Emanzipation sei schuld am Erstarken rechtspopulistischer Parteien. Eine absurde Verdrehung der Perspektive.
Daraus abgeleitet eine politische Forderung: Das Grundgesetz verbietet Diskriminierungen fast aller Art – wegen des Geschlechts, der Abstammung, der Rasse, der Sprache, der Heimat und Herkunft, des Glaubens, religiöser oder politischer Anschauungen oder aufgrund von Behinderung. Richtig so. Nur der Diskriminierungsschutz aufgrund der sexuellen Orientierung und der geschlechtlichen Identität fehlt. Es wäre nach der Ehe für alle ein weiteres großes Zeichen, wenn der Gesetzgeber das auch aufnehmen würde – zum Beispiel zum 70. Geburtstag des Grundgesetzes im nächsten Jahr. Nicht nur die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des CSD würden es ihm danken. Sondern wir, die freie Gesellschaft, einig in Diversität.