Christen und Flüchtlinge: Die Flüchtlingskrise schafft neue linke Evangelikale
Viele Christen legen in der Flüchtlingspolitik die Bibel wörtlich aus. Im evangelikalen Duktus ließe sich das als Verbalinspiration beschreiben. Schaffen sie damit eine Brücke zum Islam? Ein Kommentar.
Früher war es so: Wenn konservative Evangelikale unter Berufung auf biblische Texte behaupteten, Homosexualität sei unchristlich, schallte ihnen entgegen, die Bibel sei nicht wörtlich auszulegen, sondern historisch-kritisch, Jesus habe alle Menschen geliebt. Und wenn Muslime unter Berufung auf den Koran sagten, der Islam sei Glaube, Weltanschauung und Politik, er schreibe neben ethischen Regeln auch vor, wie das Gemeinwesen zu organisieren sei, wurde ihnen entgegnet, der Islam bedürfe einer Aufklärung, außerdem sollten Staat und Religion getrennt sein. Doch seit der Flüchtlingskrise ist vieles anders. Denn mit ihr wurde ein linker Evangelikalismus (neu) geboren.
„Ich saß von 1990 bis 2005 mit ihr im Bundestag. Nicht in jedem ihrer Sätze kamen Gott und Jesus vor. Aber sie weiß, woher sie kommt: aus einem evangelischen Pfarrhaus in der DDR“, sagt der ehemalige Pfarrer und Mitbegründer des „Demokratischen Aufbruchs“, Rainer Eppelmann, über Angela Merkel und ihren Kurs in der Flüchtlingspolitik. Die Kanzlerin selbst beklagt eine „fortschreitende Säkularisierung“ in Deutschland und meint: „Haben wir doch bitte schön auch die Tradition, mal wieder in den Gottesdienst zu gehen oder ein bisschen bibelfest zu sein oder auch mal ein Bild in der Kirche erklären zu können.“
Auf die Frage, ob man mit theologischen Argumenten Flüchtlingspolitik machen kann, antwortet die Fraktionschefin der Grünen, Katrin Göring-Eckardt: „Man kann das.“ Wenn man die christliche Botschaft mit der Flüchtlingsfrage verbinde, dann verweise sie auf die Aussagen der Bibel, dass man mit Flüchtlingen barmherzig, zuvorkommend und freundlich umgehen solle. „Kirche muss nicht neutral sein, Kirche muss Haltung zeigen." Und der ehemalige Arbeitsminister Norbert Blüm sagt im griechischen Lager Idomeni: „Wenn Europa noch etwas mit dem Christentum zu tun hat, dann muss es sich von leidenden Kinderaugen erpressen lassen.“
Hart wird die Auseinandersetzung mit der AfD geführt
Beide christlichen Kirchen, die evangelische wie die katholische, ziehen in der Flüchtlingspolitik an einem Strang, ausnahmslos. Unter Hinweis auf das Beispiel des Barmherzigen Samariters wenden sie sich strikt gegen Obergrenzen, der christliche Glaube wird als „Migrant/innen-Religion“ bezeichnet: Der Blick liege auf dem Lebensrecht und dem Schutz der ankommenden Fremden und nicht auf der eingesessenen Mehrheitsgesellschaft. Entsprechend hart wird die Auseinandersetzung mit der AfD geführt. Vom Leipziger Katholikentag wurden Vertreter der Partei ausgeladen, innerhalb der EKD gibt es Bestrebungen, AfD-Vertreter nicht zu Gemeindekirchenratswahlen zuzulassen.
Nun sind politische Aktivitäten von Christen nichts Neues. Die Unterscheidung zwischen privater Gläubigkeit (Christentum) und umfassendem Gesellschaftsgestaltungswillen (Islam) war immer schon falsch. Papst Johannes Paul II. half, den Sowjetkommunismus zu besiegen. Papst Franziskus präsentiert sich in seiner jüngsten Enzyklika „Laudato Si“ als vehementer Technik- und Kapitalismuskritiker. Ohne die protestantische Kirche lassen sich weder Friedens- noch Umweltschutzbewegung denken. Die Leugnung des Klimawandels etwa gilt als Sünde. Kirchentage sind ein lebendiges Zeugnis solchen politischen Engagements.
Verbalinspiration durch die Heilige Schrift
Doch es fällt auf, wie einhellig in der Flüchtlingsfrage die Eins-zu-eins-Übersetzung biblischer Botschaften in politisches Handeln praktiziert wird. Im evangelikalen Duktus ließe sich das als Verbalinspiration durch die Heilige Schrift beschreiben, wobei „evangelikal“ in diesem Zusammenhang lediglich als besonders bibeltreu zu verstehen ist. In Amerika gibt es das Phänomen eines Linksevangelikalismus schon länger. Man denke nur an Ex-Präsident Jimmy Carter. Die linken Frommen kämpfen für staatliche Armutsbekämpfung, den Umweltschutz und die Homo-Ehe. „Coming out – Liberal and Evangelical“ heißt ein 2008 veröffentlichtes Internet-Manifest des Pfarrers Chapin Garner, das viele in der Bewegung inspiriert hat.
Die Traditionskirchen in Deutschland hingegen mögen es nicht, mit dem Wirken Evangelikaler identifiziert zu werden. Dabei leiten auch sie – wie aktuell in der Flüchtlingspolitik – ihre Botschaften ohne hermeneutische Umwege oftmals unmittelbar aus der Bibel ab. Damit nähern sie sich, zumeist unfreiwillig, einerseits theologisch den konservativen Evangelikalen an, andererseits dem stark weltanschaulich ausgerichteten Religionsverständnis des Islam. Ob daraus allerdings neue Verständigungsmöglichkeiten entstehen, ist wegen der politischen Differenzen noch offen.